Forschen ohne Maulkorb #
Fortschritt ist nicht selbstverständlich: Die antiwissenschaftlichen Tendenzen unserer Gegenwart könnten ihn künftig gefährden. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE, Jänner 2018
Von
Martin Tauss
Vor fünfzig Jahren sah die Welt ganz anders aus: Handys und PCs waren noch höchst prickelnde Vorstellungen für die Science-Fiction; die Lebenserwartung und der materielle Wohlstand lagen für einen Großteil der Weltbevölkerung auf einem viel niedrigeren Niveau. Wissenschaftliche, technologische und medizinische Fortschritte haben unseren Alltag seither deutlich verändert. Aber ist das Leben heute besser als damals? Das hängt davon ab, wo man diese Frage stellt. In Vietnam etwa bejahen sie neun von zehn Menschen, in Venezuela hingegen nur einer von zehn. In Deutschland stimmen rund zwei Drittel zu, in den USA nur ein Drittel. Im weltweiten Schnitt zeigt sich die Mehrheit (57 Prozent) pessimistisch: Sie denkt, dass sich ihre Lebensqualität verschlechtert hat oder stagniert ist. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage unter 43.000 Menschen in 38 Staaten, die unlängst vom amerikanischen Pew Research Center durchgeführt wurde.
Den größten Einfluss hat dabei die Sicht auf die wirtschaftliche Situation. Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton hat diesen Zusammenhang auf eine einfache Formel gebracht: „It’s the economy, stupid.“ Nicht nur in Vietnam, auch in Indien oder Südkorea, wo es in den letzten 50 Jahren eine stark aufstrebende Wirtschaftsentwicklung gab, bekräftigt die Mehrheit der Bevölkerung die optimistische Einschätzung. Aber auch das Bildungsniveau spielt eine Rolle: Menschen mit höherer Bildung gehen in der Mehrheit der Staaten davon aus, dass sich das Leben für sie und ihresgleichen verbessert habe.
Hartnäckige Herausforderungen #
Doch allmähliche Verbesserungen des Lebensstandards über längere Zeiträume sind leicht zu übersehen. Einer der größten Fortschrittssprünge in der Menschheitsgeschichte erscheint dann rasch als selbstverständlich. Doch das ist er keineswegs: „In letzter Zeit haben wir Anzeichen gesehen, dass sich der Fortschritt durch Wissenschaft und Technologie verlangsamt oder sogar umkehrt“, warnt das Wissenschaftsmagazin New Scientist. Aktuelle Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Antibiotika-Resistenz etwa seien so hartnäckig, dass sie weitere Verbesserungen erschweren würden. Ein anderes Beispiel: Die Suche nach neuen Medikamenten für Erkrankungen des Gehirns gestaltet sich heute weit mühsamer als noch vor ein paar Jahrzehnten; wichtige Pharmafirmen haben ihre Forschung hier gekürzt oder eingestellt. Und zu all dem hat sich auch die globale Atmosphäre für die Wissenschaft nicht unbedingt verbessert. Im Gegenteil, ihr Potenzial werde heute gleichsam durch eine Flutwelle antiwissenschaftlicher Ressentiments bedroht, befürchtet der New Scientist, der für diese Entwicklungen ein Epizentrum zu lokalisieren weiß: das Weiße Haus in Washington, den Amtssitz des US-Präsidenten Donald Trump.
Erst kürzlich hat Trump per Twitter wieder einmal die Erderwärmung in Abrede gestellt – diesmal mit Hinweis auf den bitterkalten Winter, der die Ostküste der USA im Griff hatte. Doch extreme Kälteperioden sind laut Einschätzung von Klimaforschern keineswegs ein Zeichen gegen den globalen Klimawandel. „Die extreme Kälte beschränkt sich fast ausschließlich auf die USA; global gesehen ist es momentan viel wärmer auf der Erde als normalerweise“, sagt die Klimaforscherin Marlene Kretschmer in APA-Science. Vielmehr gebe es Hinweise darauf, dass der Rückgang des Arktischen Meereises zu den Kälteausbrüchen in den USA beigetragen haben könnte.
Davor hatte die US-Regierung aufgrund einer neuen Sprachregelung für Wissenschafter für Aufregung gesorgt. Laut Medienberichten wurden Experten der US-Seuchenbehörde (CDC) aufgefordert, bestimmte Wörter wie zum Beispiel „auf der Grundlage von Beweisen“ nicht mehr zu verwenden – also die Standardargumentation zu unterlassen, mit der man sich auf wissenschaftlich belegte Daten bezieht. Ein Maulkorb für die Gesundheitsforscher? Während das USGesundheitsministerium die Vorwürfe von sich wies, forderte die Bewegung „March for Science“, die letzten April weltweit Tausende Menschen zur Demonstration für eine freie Wissenschaft bewegt hatte, eine Rücknahme der „Zensur“: Wissenschafter müssten offen über ihre Forschung und deren Auswirkungen sprechen dürfen.
Doch auch anderswo ist die Wissenschaft unter Druck geraten: In der Türkei hat die Regierung unter Recep Tayyip Erdog˘an politisch missliebige Forscher von den Universitäten entfernt und ein Klima der Angst geschaffen, in dem der freie Austausch von Ideen unterdrückt wird. In Ungarn wird die US-geführte „Central European University“ (CEU) durch ein neues Hochschulgesetz in ihrem Fortbestand bedroht. Der dort lehrende Politikwissenschafter Anton Pelinka sieht den Grund darin, dass „die CEU so unabhängig ist und zu viel die Freiheit von Wissenschaft und Lehre hochhält“. Nach einem EU-Vertragsverletzungsverfahren bekam die Elite-Uni in Ungarn ein Jahr Aufschub, um die neuen Bedingungen zu erfüllen. In Indien wiederum fördert die Hindu-nationalistische BJP-Regierung teils dubiose Heilmethoden, die sich an alter hinduistischer Mythologie orientieren – und etwa den medizinischen Einsatz von Kuhdung und Kuhurin propagieren. Und in Österreich?
Skrupellose Gegner #
Mit der FPÖ sitzt nun eine Partei in der Regierung, bei der prominente Vertreter eine Vorliebe für Verschwörungstheorien erkennen lassen oder dem menschengemachten Klimawandel skeptisch bis leugnend gegenüberstehen. Das neue ÖVP-FPÖ-Regierungsprogramm freilich sieht Klimaschutzpolitik ganz klar als Chance, die für Wirtschaft und Umwelt genutzt werden soll, und will Strom bis 2030 nur noch aus erneuerbaren Energiequellen beziehen. Der neue Wissenschaftsminister Heinz Faßmann (ÖVP) ist Universitätsprofessor und seit 2011 Vizerektor der Uni Wien: Ihm wird auch von Insidern eine gute Kenntnis der Forschungslandschaft attestiert. Mit der Abkehr vom Nichtrauchergesetz 2015 und dem generellen Rauchverbot in der Gastronomie jedoch hat die neue Regierung wissenschaftliche Argumente mit den Füßen getreten. Die Wiener Ärztekammer hat daher ein Volksbegehren für das Rauchverbot gestartet, um doch noch der „Vernunft in Österreich“ zum Durchbruch zu verhelfen: Generelle Rauchverbote in anderen EU-Ländern zeigen, dass damit Krebs- und viele weitere Erkrankungen deutlich reduziert werden können. Es sei eine „Schande“, dass es eines solchen Kraftaktes überhaupt bedürfe, sagt Ärztekammer- Präsident Thomas Szekeres.
Nach dem Enthusiasmus des „March for Science“ 2017 sind die weltweiten Bemühungen zur Verteidigung der Wissenschaft oft im Inneren des akademischen Milieus versandet. Doch angesichts skrupelloser Gegner bedarf es des öffentlich wirksamen Widerstands. Zu Beginn des neuen Jahres gibt es die gute Gelegenheit, daran zu erinnern, was die Wissenschaft geleistet hat und was sie weiter für uns tun kann. Wenn wir ihren Stellenwert untergraben, so der New Scientist, wird das nächste halbe Jahrhundert wohl nicht besser sein als das letzte.