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15Einleitung
1972 etablierte beispielsweise die beiden miteinander verbundenen Vorstellungen
von der Lerngesellschaft und dem lebenslangen Lernen in einer Zeit, in der her-
kömmliche Bildungssysteme hinterfragt wurden. Angesichts der Beschleunigung des
technischen Fortschritts und des sozialen Wandels, so der Bericht, könne niemand
davon ausgehen, dass die Erstausbildung einer Person ihr während des ganzen
Lebens ausreichen werde. Die Schule werde, trotz ihrer weiterhin essenziellen Rolle
für den organisierten Wissenstransfer, durch andere Aspekte des sozialen Lebens
ergänzt: durch soziale Institutionen, Arbeitsumfeld, Freizeit und Medien. Der Bericht
betonte mit Bezug auf jede Person das Recht und die Notwendigkeit, für die eigene
persönliche, soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung zu lernen. Er
bestätigte die Funktion des lebenslangen Lernens als Grundpfeiler der Bildungspolitik
in Entwicklungs- wie auch Industrieländern.2
Der Delors-Bericht von 1996 propagierte eine integrierte Vision von Bildung, die auf
zwei Hauptkonzepten beruht: dem «lebenslangen Lernen» und den vier Säulen der
Bildung: Lernen, Wissen zu erwerben; Lernen, zu handeln; Lernen, zusammenzuleben
und Lernen für das Leben. Dies war kein eigentlicher Entwurf einer Bildungsreform,
sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für Überlegungen und Diskussionen darüber,
welche Entscheidungen bei der Formulierung einer Bildungspolitik nötig sind. Der
Bericht argumentierte, diese Entscheidungen bezüglich Bildung würden davon
abhängen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Neben der direkten
Funktionalität der Bildung wurde auch die Persönlichkeitsbildung als wesentlicher
Bestandteil des Bildungszwecks betrachtet3. Der Delors-Bericht war eng verbunden
mit den moralischen und intellektuellen Prinzipien, die der UNESCO als Basis dienen.
Seine Analysen und Empfehlungen waren daher humanistischer und weniger
instrumentell und marktorientiert als andere Studien zu Bildungsreformen jener Zeit.4
Der Faure- und der Delors-Bericht haben zweifellos die Bildungspolitik weltweit
beeinflusst.5 Doch müssen wir uns heute bewusst sein, dass sich der globale Kontext
in intellektueller wie materieller Hinsicht seit den 1970er-Jahren, und erneut seit den
1990er-Jahren, stark gewandelt hat. Dieses zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
bildet eine bedeutende historische Phase, die andere Herausforderungen und neue
Möglichkeiten des menschlichen Lernens und Sichentwickelns mit sich bringt. Wir
treten in eine neue historische Phase ein, die geprägt ist von der Vernetzung und
gegenseitigen Abhängigkeit der Gesellschaften sowie von einem neuen Ausmass an
Komplexität, Unsicherheit und Spannungen.
2 Medel-Añonuevo, C., Oshako, T. and Mauch, W. 2001. Revisiting lifelong learning for the 21st century.
Hamburg, UNESCO Institut für Pädagogik.
3 Power, C. N. 1997. Learning: a means or an end? A look at the Delors Report and its implications for
educational renewal. Prospects, Vol. XXVII, Nr. 2, p.118.
4 ibd.
5 Für eine Diskussion hierzu siehe zum Beispiel Tawil, S. und Cougoureux, M. 2013. Revisiting Learning:
The treasure within – Assessing the influence of the 1996 Delors report. Paris, UNESCO Education
Research and Foresight, ERF Occasional Papers, Nr. 4; Elfert, M. 2015. UNESCO, the Faure report, the
Delors report, and the political utopia of lifelong learning. European Journal of Education, 50.1, S. 88–100.
Bildung überdenken
Ein globales Gemeingut?
- Titel
- Bildung überdenken
- Untertitel
- Ein globales Gemeingut?
- Herausgeber
- Schweizerische UNESCO-Kommission
- Deutsche UNESCO-Kommission
- Österreichische UNESCO-Kommission
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 3.0
- ISBN
- 978-3-033-05613-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 96
- Kategorie
- Geisteswissenschaften