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1. Nachhaltige Entwicklung: Ein zentrales Anliegen 31
Weltanschauungen öffnen. Beispielsweise gibt es viel zu
lernen von ländlichen Gesellschaften auf der ganzen Welt
– namentlich von indigenen Völkern – über die Beziehung
zwischen der menschlichen Gesellschaft und ihrer
natürlichen Umwelt. In vielen indigenen Kulturen wird die
Erde als Mutter betrachtet. Sie und ihre Produkte dürfen
nicht geschädigt werden, ohne dass ein triftiger Grund
besteht – meist ist dies das Überleben. In vielen Kulturen
gilt der Mensch als ein Mitglied der Natur, mit gleichen
Rechten wie andere Lebewesen, ohne ihnen überlegen
zu sein. Viele ländliche Gesellschaften haben nicht lineare
Zeitvorstellungen wie wir, sondern zirkuläre. Diese sind
an die landwirtschaftliche Produktion gebunden, an den
Verlauf der Jahreszeiten, an die Feste und Bräuche, die das geistige Wohlbefinden
der Gemeinschaft stärken. Auch die Grundsätze kollektiver Ent scheidungsfindung
unterscheiden sich. Gewisse Gesell
schaften setzen auf Demokratie, Abstimmungen
und Wah len, um kollektive Entscheidungen zu treffen – selbst wenn es sich um kleine
Gruppen handelt. Andere Gesellschaften suchen den Konsens, was Argumentation,
Diskussion und Überzeugung erfordert. Es steht uns eine unbegrenzte Vielfalt
verschiedener Weltanschauungen zur Verfügung, die uns alle bereichern können, wenn
wir nur bereit sind, unsere Sicherheiten aufzugeben und uns für die Möglichkeiten
anderer Auslegungen der Wirklichkeit zu öffnen.
Kasten 2 – Das Aufeinandertreffen verschiedener Wissenssysteme
Die europäische Kultur kam nicht nur mit ihrem eigenen Wissen zu uns, sondern auch
mit ihrer Geschwindigkeit. Auch wenn wir sie uns nicht perfekt angeeignet haben und
sich daraus zahlreiche Fehlentwicklungen ergaben, befreit sie doch unser intellektuelles
Leben aus der Trägheit förmlicher Gewohnheiten und verhilft ihm zu einem wachen
Bewusstsein, eben gerade weil sie zu unseren eigenen mentalen Traditionen einen
Gegensatz darstellt. Ich lehne es jedoch ab, dass diese fremde Bildung tendenziell
den ganzen Raum unseres nationalen Geistes besetzt und dadurch die grossartige
Chance auf die Herausbildung einer neuen Geisteskraft durch eine neue Kombination
von Wahrheiten zunichtemacht oder behindert. Aus diesem Grund dränge ich darauf,
alle Elemente unserer eigenen Kultur zu stärken, nicht um uns der westlichen Kultur zu
widersetzen, sondern um sie wirklich zu akzeptieren und uns anzueignen. Sie soll uns
nähren, nicht belasten; wir sollen es im Umgang mit dieser Kultur zur Meisterschaft
bringen und uns nicht an ihren Rändern aufhalten, indem wir Texte nachplappern oder
mit Bücherwissen zu glänzen versuchen.
Quelle: Tagore, R. 1996. The Centre of Indian Culture. Sisir Kumar Das (Hrsg.), The English Writings of Rabindranath
Tagore, Vol. 2, Plays, Stories, Essays. Neu Delhi, Sahitya Akademi, S. 486. Statt ihnen eine
geringere Bedeutung
beizumessen,
müssen alternative
Wissenssysteme
anerkannt und
gebührend
berücksichtigt werden.
Bildung überdenken
Ein globales Gemeingut?
- Titel
- Bildung überdenken
- Untertitel
- Ein globales Gemeingut?
- Herausgeber
- Schweizerische UNESCO-Kommission
- Deutsche UNESCO-Kommission
- Österreichische UNESCO-Kommission
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 3.0
- ISBN
- 978-3-033-05613-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 96
- Kategorie
- Geisteswissenschaften