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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
die auf die Medienberichterstattung angewiesenen österreichischen Diplomaten
offenkundig.146
Ende 1988 wurde am Ballhausplatz gefragt, ob die durch Gorbatschows Re-
formen angestoßenen Prozesse einen „Wandel“ in Osteuropa ausgelöst hätten.
Während diese Frage mit Blick auf Polen oder Ungarn ausdrücklich mit einem Ja
zu beantworten war, stellte sich die Lage in der DDR noch etwas anders dar. Trotz
der stets hervorgestrichenen „Zufriedenheit mit dem Erreichten“ war auch offen-
kundig, dass „in letzter Zeit verstärkt Probleme“ aufgetreten waren. Die Notwen-
digkeit eines Wechsels in der überalterten Führung war „evident“. Wann und in
welcher Form dieser stattfinden würde, war aber genauso unabsehbar wie dessen
Auswirkungen auf die künftige Ausrichtung des ostdeutschen Regimes. Trotz
„eines kontinuierlichen Zunehmens an Protestpotential unter den DDR-Bürgern“
und „Unzufriedenheit weiter Kreise der Bevölkerung“ blieb der Ballhausplatz der
Überzeugung, dass „die DDR ihre Stabilität beibehalten“ werde.147 Österreichs
Botschafter in Ost-Berlin, Franz Wunderbaldinger, meinte sogar, die „entwickelte
innere Sicherheit in der DDR garantiere die innere Stabilität voraussichtlich noch
auf Jahre hinaus. Allenfalls wird punktuell auf kulturellem Gebiet zeitweilig das
Ventil geöffnet.“148
Anfang 1989 war in Wien das seit 1986 tagende dritte KSZE-Folgetreffen zu
Ende gegangen. Auf diesem war der Westen hart aufgetreten und hatte gefordert,
dass Fortschritte in humanitären Fragen nicht nur auf dem Papier erreicht, son-
dern auch in die Tat umgesetzt werden müssten. Einen Schwerpunkt stellte die
Reisefreiheit dar. Die DDR-Diplomatie und Politik hatten sich die längste Zeit gegen
weitreichende Formulierungen zu humanitären Fragen gesträubt und schließlich
nur auf sowjetischen Druck dem Schlussdokument vom 15. Jänner ihre Zustim-
mung gegeben. Einige Ergebnisse von Wien, wie beispielsweise die Abschaffung
des Zwangsumtausches bei Besuchsreisen, wollte die SED-Führung in gewohnter
Manier schlichtweg nicht umsetzen. Die Formulierungen des Abschlussdoku-
ments wurden von der SED auch nur in verfälschter Weise veröffentlicht.149
Im Gespräch der Außenminister Alois Mock und Hans-Dietrich Genscher am
Rande des Abschlusses der Wiener KSZE-Folgekonferenz wurde deutlich, wie
sehr die Differenzen zwischen der Sowjetunion und der DDR bereits bewusst wa-
ren
– nicht zuletzt mit Blick auf die Mauer. Genscher war über die erste Konferenz
146 Siehe Dok. 27.
147 Siehe Dok. 30 (Hervorhebungen im Original).
148 Siehe Dok. 32.
149 Zum Wiener-Folgetreffen siehe: Stefan Lehne, The Vienna Meeting of the Conference on
Security and Cooperation in Europe, 1986–1989. A Turning Point in East-West Relations,
Boulder 1991; Hans-Heinrich Wrede, KSZE in Wien: Kursbestimmung für Europas Zukunft,
Köln 1990; Erhard Crome / Jochen Franzke, Die SED-Führung und die Wiener KSZE-Kon-
ferenz 1986 bis 1989. Dokumente aus dem Parteiarchiv, in: Deutschland Archiv 26 (1993),
S. 905–914; Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen
Institution, Frankfurt a. M. / New York 1999. Zum Umgang der DDR mit dem Wiener-Folge-
treffem siehe weiter unten ausführlicher.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99