Seite - 41 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
mit „Qualitätssprung“ erfreut.150 Für die österreichische Botschaft in Ost-Berlin
war bald klar: „Die Zeichen werden immer deutlicher, dass der innere Dialog in
der DDR in nächster Zeit aufgenommen werden muss.“151 Trotzdem schienen die
deutsch-deutschen Beziehungen in gewohnten Bahnen zu verlaufen, ja jenseits
medialer Schlagabtausche wirkten sie sogar besser „als die Leute glauben“.152
Auch in den bilateralen Beziehungen Österreichs und der DDR deutete zu
Beginn des Jahres 1989 zunächst nichts auf rasante Veränderungen hin. Der di-
plomatische Austausch erweckte auch im Februar 1989 den Eindruck der Nor-
malität.153 Nachdem Wirtschaftsminister Robert Graf (ÖVP) bereits im Jänner
Ost-Berlin besucht hatte, wurde anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse der Im-
port von „hochveredelten Konsumgütern im Wert von über 1 Milliarde Schilling“
vereinbart. Diese Erzeugnisse sollten bereits vor den „Kommunalwahlen“ in der
DDR im Mai in den Verkauf gelangen. Die österreichische Konsumgüterindustrie
sollte also die „Wahlzuckerln“ der SED herstellen.154
Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 wurden von der SED in gewohnter
Manier zur Akklamation der von ihr aufgestellten Kandidaten inszeniert. Neben
allerlei Maßnahmen zur „Hebung der Stimmung“ wurden auch mehr als eine
Million Wahlveranstaltungen durchgeführt. Bereits im Rahmen dieser wurde
Kritik am Wahlsystem geübt, was unter anderem zur Umbesetzung einiger Kan-
didatenlisten führte. Als Egon Krenz am Wahlabend das übliche Ergebnis von fast
99 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von ebenfalls fast 99 % verkündete,
war das Entsetzen über die unveränderte Vorgehensweise der SED groß, gleich-
zeitig aber auch klar, dass man die Wahlfälschung diesmal zweifelsfrei be legen
konnte. Darauf folgten erste Demonstrationen, in den Wochen danach wurden
erste Dokumentationen über das Ausmaß der Manipulationen veröffentlicht.
Fortan war jeder gesellschaftliche Protest mit einem Verweis auf die gefälschten
Ergebnisse verbunden. Diese verfolgten die SED fortan, und auch bisher linien-
treue Bürger hinterfragten stärker als bisher die Vorgehensweise der Einheits-
partei.155 Botschafter Wunderbaldinger maß der Wahlfälschung anfangs offen-
bar keine große Bedeutung bei und erwartete zunächst keine Auswirkungen auf
die Stabilität der DDR: „Die Pressestimmen in der BRD werden in einigen Tagen
verstummen und der Markstein des 7. Mai wird in das historische Gedenkjahr
1989 eingetragen werden.“156 Diese Einschätzung sollte sich dann in gegenteiliger
Interpretation als zutreffend erweisen.
150 Siehe Dok. 34.
151 Siehe Dok. 35.
152 Siehe Dok. 36
153 Siehe Dok. 37.
154 Graf, Österreich und das „Verschwinden“ der DDR, S. 222–223.
155 Zu Vorbereitung, Ablauf und Fälschung der „Kommunalwahlen“ im Mai 1989 in der DDR
siehe: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009,
S. 318–333.
156 Botschafter Franz Wunderbaldinger an BMAA, Berlin (Ost), 10. Mai 1989, Zl. 91-Res/89,
BMEIA, ÖB Berlin (Ost), RES-1989 (1–10), Karton 24.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99