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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
die Auffassung fehl, Österreichs Beziehungen zu den EG hätten ab den Freihan-
delsabkommen von 1972 bis in die 1980er-Jahre hinein nur stagniert. Für Kreisky
gab es aber klare Begrenzungen: Staatsvertrag und Neutralität sowie letztlich
Österreichs Souveränität. Ein Faktum war allerdings auch für ihn zur Kenntnis
zu nehmen: Österreichs Außenhandel war in den 1970er-Jahren von der Domi-
nanz der Verflechtungen mit dem EG-Raum und hierbei v. a. mit der Bundesre-
publik Deutschland gekennzeichnet, wenngleich der EFTA-Anteil beträchtlich
ausgebaut werden konnte und erst zu Beginn der 1980er-Jahre einen rückläufigen
Trend aufwies. Die österreichischen Exporte in die Oststaaten, ein besonderes
Anliegen von Kreisky, zwischen zehn und 15 %, stellten weiterhin einen nicht
zu unterschätzenden Faktor für die österreichische Außenwirtschaft dar. Seine
Außen- und Europapolitik, die Kreisky deutlich mehr an internationalen und glo-
balen als an europäischen Fragestellungen orientierte, behielt weiter Vorrang vor
einer zu intensivierten Teilnahme an der europäischen Integration und nahm we-
nigstens zeitweise Wachstumsminderungen in Kauf, um die Neutralität zu wah-
ren und damit die Souveränität zu behaupten. Kreisky legte stets auf zwei weitere
Grundkonstanten Wert: Koordination mit den übrigen neutralen Mitgliedern der
EFTA sowie ihren Fortbestand. Er betrieb eine Politik in Wartestellung gegenüber
der EG, die offen war für Annäherungen. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre
wurden neue Akzente gesetzt. Auf Initiative des Bundeskanzlers fand am 13. Mai
1977 eine EFTA-Gipfelkonferenz in Wien statt, bei der in einem 10-Punkte-Pro-
gramm zwar einerseits für eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der EFTA,
koordinierte Anstrengungen zur Sicherung des Freihandels, aber auch für eine
Ausweitung der Kooperation mit der EG plädiert wurde.193
Weitere Befunde machen auch darauf aufmerksam, dass Kreisky das Verhält-
nis zur EG dynamisieren wollte, zumal es auch Druck seitens der Opposition
(Industriellenvereinigung, Wirtschaftsbund, ÖVP) gab. Der erfolgreiche Abschluss
der Währungsgespräche in Brüssel zur Schaffung eines Europäischen Währungs-
systems (EWS) im Dezember 1978 veranlasste Kreisky an Helmut Schmidt in des-
sen Funktion als Präsident des Europäischen Rates heranzutreten: Die Schaffung
einer Zone stabiler Wechselkurse in einem großen Teil Europas sei für Österreich
von großer Bedeutung. Österreich habe durch seine bisherige Währungspolitik
aktiv dazu beigetragen, die seit dem Zusammenbruch des Systems von Bretton
Woods entstandenen internationalen Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Wech-
selkurse auf ein erträgliches Maß zu beschränken und sich in seiner Kurspolitik
„de facto seit vielen Jahren der Wechselkurspolitik, der sogenannten ‚Schlange‘,
nahegehalten“. Es erschien Kreisky umso wichtiger, die Voraussetzungen zu prü-
fen, unter denen Österreich, „unter Wahrung aller seiner legitimen Interessen“,
„mit dem neuen System flexibel zusammenarbeiten“ könne. Die geographische
Lage und die wirtschaftliche Verflechtung Österreichs mit Europa ließen eine
193 Paul Luif, Der Weg zum 12. Juni: 1955, 1957, 1962, 1972/73, in: Anton Pelinka (Hg.),
EU-Referen dum. Zur Praxis direkter Demokratie in Österreich (Schriftenreihe des Zentrums
für angewandte Politikforschung 6), Wien 1994, S. 23–48, hier S. 44.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99