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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Damit war ein recht treffliches Bild der österreichischen Haltung gezeichnet.
Die Furcht vor einer Verschlechterung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen
sowie möglichen Auswirkungen auf die eigenen EG-Beitrittsambitionen waren
in Österreich augenscheinlich vorhanden. Das Stattfinden und der Verlauf des
Besuches schienen die DDR-Einschätzung zu bestätigen. Durch das erneut un-
terzeichnete jährliche Wirtschaftsabkommen war Österreich hier mit der DDR
weiter als jeder andere westliche Staat. Im Gespräch mit Modrow hielt Vranitzky
zur Haltung Österreichs betreffend eine „Wiedervereinigung“ fest: „Österreich
betrachte dies primär als eine Entscheidung, die von den deutschen Staaten zu
treffen sei, und würde auch diese Entscheidung respektieren. Andererseits müsse
man aber auch den gesamteuropäischen Zusammenhang und in diesem Sinne
auch die Beschlüsse der KSZE über die Stabilität in Europa in Betracht ziehen.“271
Vranitzky führte während des Besuchs auch Gespräche mit der Opposition, u. a.
mit Steffen Reiche, und mit dem West-Berliner Bürgermeister Walter Momper
von der SPD.272 Das Gespräch mit dem zaudernden Momper, der lange an einen
Fortbestand der DDR glaubte und nicht von einer „Wiedervereinigung“, sondern
vom „Wiedervereinigungsgequatsche“ sprach,273 dürfte Vranitzky in seiner auf
Fortbestand ausgerichteten Haltung gegenüber der DDR eher bestärkt haben. Im
Gegensatz zum belgischen Außenminister Mark Eyskens der zwei Wochen später
als nächster, nicht aber letzter prominenter ausländischer Staatsmann die DDR
besuchte,274 war Vranitzky nicht mit Egon Krenz, sondern mit Vertretern der Op-
position zusammengetroffen. Das Nichtstattfinden solcher Treffen bei früheren
Staatenbesuchen in Mittel- und Osteuropa in den Jahren zuvor war dem öster-
reichischen Kanzler immer wieder zum Vorwurf gemacht worden.
Die Bundesrepublik hatte am 20. November durch Kanzleramtsminister Ru-
dolf Seiters ihre Sondierungen mit der neuen DDR-Führung aufgenommen. Kon-
krete Versprechungen waren aber ausgeblieben, was die ostdeutsche Bevölkerung
aus Sicht der österreichischen Botschaft Ost-Berlin enttäuscht haben soll und als
eher kontraproduktiv im Ringen der Opposition mit der noch herrschenden SED
um einen Reformprozess erschien.275 Der große bundesdeutsche Coup im Rah-
men einer „One-Man-Show“ ließ aber nur wenige Tage auf sich warten.
Am 28. November 1989 präsentierte Bundeskanzler Helmut Kohl im Deut-
schen Bundestag sein Zehn-Punkte-Programm, das einen Fahrplan für einen
über Zwischenschritte zu erreichenden möglichen Weg zur deutschen Einheit
271 Zum Besuch siehe Dok. 77–78.
272 BStU, MfS, HA XX / AKG, Nr. 5723; BStU, MfS, ZOS, Nr. 1099, Bl. 10–13.
273 Für die Wendung „Wiedervereinigungsgequatsche“ siehe: Dok. 79. Zur Haltung Mompers
siehe Wilfried Rott, Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990, München 2009,
S. 411–421; sowie Walter Momper, Grenzfall. Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte,
München 1991. Am 9. November 1989 hatte Momper vom „Wiedersehen“ gesprochen.
274 Siehe Dok. 90.
275 Siehe Dok. 75. Rudolf Seiters, Vertrauensverhältnisse. Autobiographie (Unter Mitarbeit von
Carsten Tergast), Freiburg / Basel / Wien 2016, S. 135–143.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99