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Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990
Für Wien stellte die vom NATO-Gipfel in London am 5./6. Juli 1990 von den
Staats- und Regierungschefs der Staaten des atlantischen Bündnisses verabschie-
dete „Londoner Deklaration über eine veränderte nordatlantische Allianz“ ein
„klares Bekenntnis der Allianz dar, auf die veränderte Lage in Europa einzugehen
und die in Aussicht gestellte Umwandlung in eine stärker politische Organisation
durchzuführen“. Sie wurde zudem als „ein Signal der außenpolitischen Hilfestel-
lung für den bedrängten Gorbatschow“ und der Bereitschaft, in der „Frage der
deutschen Einigung […] auf sowjetische Sicherheitsinteressen Rücksicht nehmen
zu wollen“ gewertet – insbesondere im Hinblick auf die künftige Truppenstärke
eines geeinten Deutschlands.373 Diese wurde nach langen Verhandlungen und
zähem innerdeutschen Ringen auf eine Obergrenze von 370.000 Mann festgelegt.
Darin sah das österreichische Außenministerium schließlich auch einen der maß-
geblichen Gründe für Gorbatschows Entscheidung die Ampel zur deutschen Ein-
heit endgültig auf Grün zu stellen.374
Die Entscheidung fiel, als Kohl und Gorbatschow am 16. Juli 1990 in Archys
im Kaukasus verhandelten und eine Paketlösung aus Einheit mit ausdefinierter
NATO-Mitgliedschaft, deutscher Wirtschaftshilfe und anderen finanziellen Ab-
geltungen sowie der Perspektive eines künftig auch vertraglich engeren deutsch-
sowjetischen Verhältnisses erreichten, deren Details freilich noch Experten-
verhandlungen in den folgenden Wochen und Monaten vorbehalten blieben.
Alois Mock reagierte bereits am 17. Juli mit Glückwunschschreiben zum „groß-
artigen Verhandlungserfolg“ an Kohl375 und seinen Amtskollegen Genscher, dem
er attestierte, daran „in so hervorragender Weise beteiligt“ gewesen zu sein.376 In
einer ersten Einschätzung des „Durchbruchs im Kaukasus“ bemerkte die öster-
reichische Botschaft in Moskau, wie vage die Nachrichten und Verlautbarungen
373 Siehe Dok. 159.
374 Siehe Dok. 162.
375 „Lieber Freund! Zu dem großartigen Verhandlungserfolg in Moskau möchte ich Dir meine
herzlichsten Glückwünsche ausdrücken. Die erzielte grundsätzliche Einigung ist nicht nur
für Deutschland, sondern darüber hinaus für ganz Europa von größter Bedeutung. Ich bin
zuversichtlich, daß damit die Grundlage für eine dauernde Friedensordnung, die über un-
seren Kontinent hinausreicht, geschaffen wurde.“ Mock an Kohl, Wien, 17. Juli 1990, ÖStA,
AdR, BMAA, II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/172-II.SL/90. Auch Bundeskanzler Vranitzky hatte
Kohl wenig später per Schreiben gratuliert. Kohl bedankte sich für die „Glückwünsche zu
den Ergebnissen meiner Begegnung mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow“ und
fügte hinzu: „Wir sind unseren Verbündeten und Nachbarn dankbar, daß sie den Weg des
deutschen Volkes zur Herstellung der Einheit mit Verständnis und Vertrauen unterstützen.“
Kohl an Vranitzky, Bonn, 8. August 1990, Kreisky-Archiv, Depositum Franz Vranitzky, Be-
stand AP, Karton „KRAZAF, KUWEIT, Dr. Kohl Helmut BK. d. BRD“, Mappe „Kohl Helmut,
Dr. BK d. BRD u. VS d. CDU“.
376 „Ich möchte Ihnen zu dem Erfolg der Moskauer Verhandlungen, an dem Sie in so hervor-
ragender Weise beteiligt waren, aufrichtig gratulieren. Als Nachbarstaat verfolgen wir die
Bemühungen um die Einigung Deutschlands in Frieden und Freiheit mit besonderem Inter-
esse. Nunmehr besteht erstmals die Aussicht auf eine dauernde europäische Friedensordnung
in Freiheit und Demokratie.“ Mock an Genscher, Wien, 17. Juli 1990, ÖStA, AdR, BMAA,
II-Pol 1990, GZ. 22.17.01/172-II.SL/90.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99