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12.8.1986: Bericht Botschafter Wunderbaldinger
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Dok. 3
Gesellschaftspolitische Perspektiven4
Über die nächsten gesellschaftspolitischen Ziele wurde wenig gesagt, da man
einen Vergleich mit der Sowjetunion vermeiden will. Gorbatschow übte am Par-
teitag der KPdSU heftige Kritik an vielen Missständen und umriss das zu errei-
chende gesellschaftspolitische Ziel mit dem Satz: „Beschleunigung der sozialen
ökonomischen Entwicklung unseres Landes“. Honecker hat sich Kritik erspart
und bewertet die Leistungen der SED als sehr gut, gab sich außerordentlich selbst-
bewusst und ist heute mit Recht sicher nicht bereit, den Entwicklungsstand der
DDR-Gesellschaft unterhalb dem der Sowjetunion einzuordnen. Er hat aber den
Eindruck, den realen Sozialismus in der DDR als Modell für die Entwicklung an-
derer sozialistischer Staaten hinzustellen, peinlichst vermieden.
Beziehungen zu Parteien
Bemerkenswert ist, dass die SED für die Selbständigkeit der kommunistischen
Parteien eintrat. Neben der festen Kampfgemeinschaft mit der KPdSU und der ef-
fektiven Zusammenarbeit mit den marxistisch-leninistischen Parteien wird fest-
gehalten, dass die Vertiefung des internationalen Zusammenwirkens der kom-
munistischen Parteien sich heute auf Selbständigkeit und eigene Verantwortung
jeder Partei bei der Ausarbeitung und Durchführung ihrer Politik, bei der Be-
rücksichtigung der nationalen und internationalen Bedingungen gründet. Die
Beziehungen zu westlichen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien
sollen daher weiter ausgebaut werden. Die Haltung der Sozialistischen Internatio-
nale zur Abrüstung und ihre Ablehnung des SDI-Programms5 wird begrüßt. In
diesem letzteren Fall ergibt sich kein Widerspruch mit Gorbatschow.
Deutsch-deutsche Beziehungen
Beibehaltung der bisherigen Linie der „Politik der Vernunft und des Realismus“,
aber eine stärkere Anpassung an die sicherheitspolitischen Erwartungen Moskaus.
Zu dieser Politik gehört die Anerkennung von Realitäten, die als Ergebnis des
II.
Weltkrieges entstanden sind und in diesem Zusammenhang die Anerkennung
der Existenz von zwei deutschen Staaten.
Die Sicherung des Friedens ist auch in den Beziehungen DDR–BRD die ent-
scheidende Frage. Eine Formel, mit der sich die Fortsetzung der bestehenden
Kontakte ebensogut begründen lässt wie ihre Erweiterung oder Einschränkung.
Immer wird die gemeinsame Erklärung Honeckers und Kohls vom März 1985 in
Moskau6 über die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territori-
4 Die Randglossen werden in der Edition als Zwischenüberschriften wiedergegeben und kursiv
hervorgehoben.
5 Die Strategic Defense Initiative (SDI) wurde von US-Präsident Ronald Reagan am 23. März
1983 offiziell angeordnet und zielte auf den Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkon-
tinentalraketen ab. Es blieb ein virtuelles Projekt.
6 Am 12. März 1985 veröffentlichten Honecker und Kohl nach einem Gespräch am Rande
der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen sowjetischen Generalsekretär Konstantin
U.
Tschernenko eine gemeinsame Erklärung, siehe: Texte zur Deutschlandpolitik III/3
– 1985,
S. 160–161.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99