Seite - 163 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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6./7.10.1987: Gespräche Mocks mit Kohl und Genscher Dok. 11
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VK Genscher stellt mit Befriedigung fest, dass nunmehr auch AM Shultz24
diese positive Einschätzung der Entwicklung in der Sowjetunion teile. Dass es zu
diesem Umdenken in der Sowjetunion gekommen sei, wäre nicht zuletzt auch die
Folge der beharrlichen Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses durch die
Staaten der Allianz; wenn man sich etwas vorgenommen habe, dann müsse man
es auch durchziehen. Als abschreckendes Beispiel diene das Weizenembargo Prä-
sident Carters25 gegenüber der Sowjetunion, das dann von Präsident Reagan26
zurückgenommen worden sei, ohne dass die Entwicklung in Afghanistan ein der-
artiges Entgegenkommen gerechtfertigt hätte.
VK Genscher unterstreicht seine Zuversicht hinsichtlich der Zwangsläufigkeit
der sowjetischen Entwicklung, wobei allerdings Rückschläge nicht auszuschlie-
ßen seien und daher das definitive Tempo nicht vorhergesagt werden könne.
Tschernobyl27 sei für die sowjetische Führung ein Schlüsselerlebnis gewesen, weil
die ersten Meldungen über das Unglück aus dem Westen kamen und der Führung
erstmals klar wurde, dass sie ihre bisherige totale Informationskontrolle über
wichtige Vorgänge im eigenen Land verloren hatte.
VK Genscher erwähnt noch das Bemühen der Bundesrepublik, die Beziehun-
gen zu Ungarn exemplarisch weiterzuentwickeln. Was Jugoslawien betrifft, so
teilt er die vom HVK ausgesprochene große Sorge über die Entwicklung in diesem
Land und streicht hervor, dass sich die Bundesrepublik im Rahmen der EG mit
großem Nachdruck für die Interessen Jugoslawiens einsetze.
Abschließend kommt der HVK auf die österreichisch-deutschen Verhandlungen
betreffend die Sicherheit von Kernanlagen zu sprechen und hofft, dass es gelin-
gen wird, durch persönliche Kontakte die erstarrten Fronten aufzulockern. Er
verweist auf die in diesem Zusammenhang bereits bestehenden und zum Teil
auch schon funktionierenden Verträge mit der ČSSR28 und Ungarn;29 es wäre
im höchsten Maße unangenehm, wenn es zwar gelinge, derartige Verträge mit
kommunistischen Nachbarstaaten abzuschließen, man jedoch mit einem be-
freundeten westlichen Nachbar diesbezüglich nicht weiterkomme. Er hoffe sehr,
dass bis Jahresende der Inhalt dieses Vertrages feststehe.
24 George P.
Shultz, Außenminister der USA (1982–1989), siehe Personenregister mit Funktions-
angaben.
25 James E.
Carter, Präsident der USA (1977–1981), siehe Personenregister mit Funktionsangaben.
26 Ronald Reagan, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1981–1989), siehe Personen-
register mit Funktionsangaben.
27 Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des Kern-
kraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat. Auf der siebenstufigen interna-
tionalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse wurde sie als erstes Ereignis der Kategorie
„katastrophaler Unfall“ eingeordnet.
28 Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Tschechoslowakischen Sozialistischen
Republik zur Regelung von Fragen gemeinsamen Interesses in Zusammenhang mit Kern-
anlagen, BGBl. Nr. 208/1984.
29 Abkommen zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Unga-
rischen Volksrepublik zur Regelung von Fragen gemeinsamen Interesses im Zusammenhang
mit kerntechnischen Anlagen, BGBl. Nr. 454/1987.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99