Seite - 188 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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27.4.1988: Bericht Botschafter Bauer
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Dok. 20
Die Bundesregierung sieht sich andererseits aus politischen und verfassungs-
rechtlichen Gründen genötigt, immer wieder auf ihren Wiedervereinigungsauf-
trag hinzuweisen. Aus innenpolitischen Gründen wegen der Besorgnis, dass bei
Vernachlässigung der Wiedervereinigungsvision dieses Thema von extremen
Gruppen besetzt werden könnte, wobei vor allem ein Anwachsen unzufriedener
Stimmen auf dem rechten Wählerspektrum zu Lasten der CDU / CSU befürchtet
würde. Aus außenpolitischen Gründen, weil nur so der heute abstrakte Anspruch
auf Wiedervereinigung in der internationalen Politik am Leben erhalten11 werden
kann. Außerdem will man nicht Gefahr laufen, die Thematik möglicherweise der
DDR zu überlassen: Honecker wollte zu Anfang der 80er-Jahre eine Wiederverei-
nigung unter „sozialistischen“ Vorzeichen nicht ausschließen!12 Aus verfassungs-
rechtlichen Gründen schließlich, weil die Bundesregierung verhalten ist, das Ziel
der Wiedervereinigung mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern
und seine Erreichung nicht zu behindern.13
Aus all diesen Gründen, bestätigt Staatssekretär Hennig, genüge es nicht, wie
unter früheren Regierungen geschehen, nur „einmal jährlich am 17. Juni“ über
Deutschland zu sprechen; die Bundesregierung müsse in der Öffentlichkeit ver-
stärkt auf das Wiedervereinigungsthema eingehen: Daraus erklärt sich die in den
tigung von Ungleichgewichten, die nachteilig für die Stabilität und Sicherheit waren, vor allem
die Beseitigung der Fähigkeit zur Auslösung von Überraschungsangriffen und zur Einleitung
großangelegter offensiver Handlungen. Als Methoden sollten Begrenzungen, Obergrenzen
und Verlagerungen angewendet werden. Die Verhandlungen mündeten in den Vertrag über
die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), den die Mitglieder
der NATO und des Warschauer Pakts am 19. November 1990 in Paris unterzeichneten. Für
den Vertragstext siehe: 20 Jahre KSZE, S. 369–392.
11 Unterstreichung im BMAA.
12 Tatsächlich hatte Honecker im Februar 1981 „auf der SED-Bezirksdelegierten-Konferenz in
Ost-Berlin öffentlich erklärt, ‚dass eines Tages der Sozialismus auch an die Tür der BRD an-
klopft‘ und dann die Frage der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wieder zur
Entscheidung anstehe“. Diese Aussage sorgte in der Bundesrepublik für einige Irritation. Je-
doch wurde auch durch SED-Funktionäre rasch bestätigt, dass dies keineswegs eine Abkehr
von der „eigenständigen sozialistischen Nation in der DDR“ bedeutete. Zitiert nach Heike
Amos, Die SED-Deutschlandpolitik 1961 bis 1989. Ziele, Aktivitäten und Konflikte, Göttin-
gen 2015, S. 345. Ähnliche Aussagen tauchen auch in den Folgejahren immer wieder auf, ja
sogar noch Anfang 1989. Vgl. ebd., S. 431 und 573. Derartige Wortmeldungen entsprachen
aber nicht der tatsächlichen Konzeption der SED-Deutschlandpolitik, die die deutsche Frage
seit Anfang der 1970er-Jahre für erledigt hielt.
13 Der Originalwortlaut der Präambel des Grundgesetzes 1949 lautet: „Im Bewußtsein seiner
Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und
staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen,
Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein,
Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine
Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen
gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99