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11.11.1988: Information Gesandter Sucharipa Dok. 30
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3.6. DDR:
– Die wirtschaftliche Situation der DDR hat auf Grund verschiedener Faktoren
unter allen Staaten Osteuropas die positivste Entwicklung genommen, wobei in
letzter Zeit verstärkt Probleme auftreten (Rückgang des Wirtschaftswachstums;
Erstarrung der Kombinatsverfassung; Fehlen zukunftsweisender Konzepte).
– Trotzdem ist nach wie vor ein Superioritätsgefühl gegenüber den „Bruder-
ländern“ festzustellen, das die DDR auf die „Herausforderung Gorbatschow“
–
neben Rumänien – am zurückhaltendsten reagieren lässt.
– Während GS Gorbatschow im Zusammenhang mit der sowjetischen Umge-
staltung ausdrücklich das gemeinsame Schicksal der Sowjetunion mit seinen
Bruderländern betont und sich über die Fehler der Vergangenheit sehr kritisch
äußert, hebt die DDR-Führung immer wieder ihre Zufriedenheit mit dem Er-
reichten hervor.
– Die Problematik, in absehbarer Zeit einen Generationswechsel durchführen
zu müssen, ist evident und hat in letzter Zeit zu verstärkten Ablösespekulatio-
nen um die Person Honeckers geführt. Dabei ist derzeit völlig offen, ob sich
ein „Hardliner“ oder ein Vertreter einer liberalen Linie in der Nachfolgerfrage
durchsetzen wird.
– Diese Frage ist nicht zuletzt auf Grund eines kontinuierlichen Zunehmens an
Protestpotential unter den DDR-Bürgern von größter Relevanz. Die evangeli-
sche Kirche, der spätestens seit dem 1978 getroffenen „Modus Vivendi“ zwi-
schen Staatsführung und Kirchenleitung3 seitens des Staates offensichtlich die
Aufgabe zugedacht war, auf kritische Kreise besänftigend einzuwirken, ist im-
mer weniger in der Lage oder auch willens, diese Funktion zu erfüllen.4
– Trotz der Unzufriedenheit weiter Kreise der Bevölkerung wird die DDR ihre
Stabilität beibehalten. Hierfür sorgen das stark entwickelte Realitätsbewusst-
sein der DDR-Bürger wie auch der im Vergleich zu anderen RGW-Ländern
noch immer hohe Lebensstandard. Die grundsätzlich prekäre Situation der
DDR, die sich aus ihrer Position an der Systemgrenze ergibt, bleibt freilich be-
stehen. Sie wird durch die Gorbatschowsche Reformpolitik und auch durch
eine weitere Ost-West-Annäherung keineswegs aufgehoben.
[…]5
4. Schlussfolgerungen für die österreichische Politik:
4.1. Grundsätzliche Haltung:
Die konstatierte oder allenfalls zu erwartende stärkere innenpolitische Bewe-
gung in den osteuropäischen Ländern stellt auch für Österreich eine doppelte
3 Siehe Dok. 22, Anm. 14.
4 In den Hintergrundinformationen für Bundeskanzler Vranitzky für dessen DDR-Besuch im
Juni 1988 wurde ausführlicher auf das Verhältnis zwischen der evangelischen Kirche und der
Staats- und Parteiführung in der DDR eingegangen, siehe Dok. 22.
5 Ausgelassen wurden die Einzeldarstellungen zu Bulgarien und Rumänien.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99