Seite - 238 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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20.12.1988: Bericht Botschafter Bauer
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Dok. 33
findet sich bisher nicht einmal ein Termin für einen polnischen Außenminister-
besuch in Bonn. Bundesdeutsche Medien sprechen daher von einer totalen
Blockie
rung der Beziehungen und behaupteten sogar, daß die Abrüstungs-
Arbeitsgruppen eingestellt worden wären. In einem umfassenden Interview in
der „Welt“ vom 12.12.1988 gab sich MP Rakowski weniger düster und bezeichnete
1989 als „Jahr des Umbruchs“.4
Lt. AA ist die Arbeitsgruppe für Abrüstungsfragen entgegen früheren Pres-
semeldungen am 23.11.1988 in Bonn zusammengetreten, wobei Vorbereitungen
für ein bilaterales Seminarium betreffend Militärdoktrinen besprochen wurden.
Da allerdings in der Erklärung der NATO-Außenminister vom 8.12.1988 unter
Pkt. 11 Modalitäten für einen Meinungsaustausch über Militärdoktrinen im
VSBM-Zusammenhang angekündigt wurden, kommt den polnisch-deutschen
Bemühungen dadurch praktisch verminderte Bedeutung zu.
Von sozialdemokratischer Seite war als Argument gegen eine Kernwaffen-
modernisierung angeführt worden, daß ein Lance-Nachfolgemodell5 v. a. gegen
militärische Ziele auf polnischem Staatsgebiet eingesetzt würde, während keine
Raketen von Polen aus die BRD bedrohten. Dem AA zufolge hätte jedoch Polen
weder in der Arbeitsgruppe noch früher die Lance-Modernisierung als Hindernis
für die Entwicklung der polnisch-deutschen Beziehungen aufgegriffen.
Die beiden anderen Arbeitsgruppen sind hingegen seit Ende Mai d. J. nicht
mehr zusammengetreten, und neue Termine sind nicht vorgesehen. Die Diplo-
maten wären nun „am Ende ihres Lateins“ und benötigten Anstöße von hoher
politischer Ebene, um ihre Arbeiten fortführen zu können. Zwar wären polni-
scherseits verschiedene Signale in der für Bonn wichtigen politischen Arbeits-
4 Auf die Frage des Chefredakteurs Manfred Schell: „Zwischen Warschau und Bonn wird ja seit
geraumer Zeit über einen Besuch von Bundeskanzler Kohl in Polen gesprochen. Woran ‚hängt‘
dieser Besuch?“ hatte Rakowski geantwortet: „Der Bundeskanzler kennt unsere Haltung. Wir
haben ein Paket von Vorschlägen unterbreitet, es geht dort um Lösungen von Fragen, über
die es bisher unterschiedliche Meinungen gibt. Wir wollen eine grundsätzliche Neubewer-
tung unseres Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland, wir wollen einen Umbruch. Ich
habe das im Sejm gesagt. Das bedeutet auch, daß wir unsere Haltung korrigieren, die Sicht
Bonns in unser Verhalten einbeziehen müssen. Man sollte alles aus der Welt schaffen, was
die Beziehungen erschwert. Und jetzt, wo wir 1989 an den 50. Jahrestag des Ausbruchs des
Zweiten Weltkriegs denken, wäre die Zeit dafür gekommen. Leider habe ich bis jetzt keine
eindeutige Antwort auf unserer Angebot bekommen. Wir haben nur Phrasen gehört.“ Für
das ausführliche, tiefe Einblicke gewährende Interview mit Rakowski siehe „Wohin steuern
Sie Polen, Herr Rakowski?“ in: Die Welt, 12. Dezember 1988, S. 7. Mieczysław Rakowski,
Ministerpräsident Polens (September 1988 – Juli 1989), siehe Personenregister mit Funktions-
angaben.
5 Die MGM-52 Lance war eine Kurzstreckenrakete aus amerikanischer Produktion. Nach der
Ratifizierung des INF-Vertrags wurde dieser Raketentyp verschrottet. Ihr folgte die MGM-
140 ATACMS (Army TACtical Missile System) nach. Die ersten dieser Boden-Boden-Raketen
wurden aber erst im Juni 1990 ausgeliefert.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99