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16.6.1989: Information Gesandter Plattner Dok. 41
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Beim Besuch Gorbatschows in der BRD wurde – erwartungsgemäß – keine Ver-
einbarung getroffen, die das Verhältnis BRD – DDR direkt berühren würde. Ande-
rerseits hat die BRD in keinem Bereich Positionen akzeptiert, die mit der Strategie
des westlichen Bündnisses nicht vereinbar wären.
Eine Analyse der unterzeichneten gemeinsamen Erklärung3 gibt folgendes Bild:
Der Hinweis auf das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu be-
stimmen, die in einem späteren Abschnitt enthaltene Feststellung, dass jeder
Staat das Recht habe, das eigene politische und soziale System frei zu wählen,
(Westdeutsche Interpretation: Absage an die Breschnjew-Doktrin)4 und die Beto-
nung, dass der Mensch im Mittelpunkt der Politik zu stehen hat, tragen deutlich
die Handschrift der Bonner Politik. Inwieweit diese Bekenntnisse Entwicklungs-
potential für eine grundlegende Änderung des deutsch-deutschen Verhältnis-
ses enthalten, ist nicht absehbar. Auch die Aussagen zugunsten der nationalen
Minderheiten in Europa (deutschsprachige Minderheiten in Osteuropa;) und der
geschichtlich erwachsenen Kulturen der Völker Europas beinhalten westliches
Gedankengut. Mit der Feststellung betreffend „das Gewicht, das jede Seite in
wirkt den Vorwürfen einer zu langsamen Implementierung seiner Außenpolitik entgegen und
bekräftigt den amerikanischen Führungsanspruch im westlichen Bündnis. Die besonders
positive Haltung der BRD zur Reformpolitik Gorbatschows (insbesondere die Ablehnung
der Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen) hatte innerhalb der Allianz die Sorge
hinsichtlich einer zur starken Zuwendung der BRD zum Osten neu aufleben lassen. Durch die
Einigung in Brüssel ist diese Besorgnis wieder in den Hintergrund getreten. In der Erklärung
der BRD-Regierung nach dem NATO-Gipfel wurde die vorbehaltlose Zugehörigkeit der BRD
zum westlichen Bündnis neu bekräftigt.“ Der NATO-Gipfel in Brüssel (Mai 1989); außen-
politische Wertung, Information, Gesandter Johann Plattner, Wien, 2. Juni 1989, ÖStA, AdR,
BMAA, II-Pol 1989, GZ. 701.01/19-II.1/89.
3 Abgedruckt in: Texte zur Deutschlandpolitik III/7 – 1989, S. 148–153. Erstveröffentlicht im
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn von 13. Juni 1989,
S. 542–544. Im BMAA wurde die Gemeinsame Erklärung durch den Leiter der Abteilung II.3,
Ernst Sucharipa einer separaten Analyse unterzogen. Siehe BRD-Sowjetunion; Gemeinsame
Erklärung vom 13.6.1989, Information, Ernst Sucharipa, Wien, 15. Juni 1989, ÖStA, AdR,
BMAA, II-Pol 1989, GZ. 225.01.01/17–11.3/89. Darin wurde festgehalten, dass die Gemein-
same Erklärung „auch propagandistisch im Zentrum des Besuches des sowjetischen Partei-
und Staatschefs in der BRD“ stand und „– nicht ganz zu unrecht – von beiden Seiten als Zei-
chen eines Durchbruchs in den bilateralen Beziehungen und
– aus BRD-Sicht
– als historische
Festlegung der Sowjetunion auf bislang nur vom Westen vertretene politische Prinzipien ein-
schließlich des entsprechenden (westlichen) Vokabulars gewertet“ wird. Abschließend wurde
konstatiert: „In den deutschlandpolitisch relevanten Teilen der Erklärung werden Formulie-
rungen verwendet, die mit der bisherigen Position der Sowjetunion durchaus vereinbar sind
(zwar Recht auf freie Systemwahl, aber Achtung der Integrität jedes Staates; Teilnahme von
Berlin (West) an der Entwicklung der Zusammenarbeit unter strikter Beachtung des Vier-
mächte-Abkommens aus 1971). Ein von BRD-Seite sicherlich erhofftes Umdenken Moskaus
in der Berlin – oder gar Deutschlandfrage ist somit nicht eingetroffen. Dafür spricht auch
die vorläufige Zurückstellung des Abschlusses eines Schifffahrtsvertrages wegen der offen-
gebliebenen Frage der Einbeziehung Berlins.“
4 Zur „Breschnew-Doktrin“, siehe Dok. 4, Anm. 6.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99