Seite - 262 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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20.6.1989: Gespräch Schikin – Klestil
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Dok. 42
1) Die verabschiedete gemeinsame Erklärung5 ginge über den Rahmen der bilate-
ralen Beziehungen hinaus und enthalte das Konzept einer möglichen zukünftigen
Gestaltung der europäischen Beziehungen. Die Annäherung zwischen Sowjet-
union und BRD sei keineswegs gegen andere Staaten gerichtet, vielmehr könnte
die verstärkte Zusammenarbeit mit der BRD auch als Schlüssel zu einer verstärk-
ten Zusammenarbeit mit anderen Ländern dienen.
2) Zur Frage West-Berlin gebe es nach wie vor Differenzen. So strebe die BRD
die Einbeziehung West-Berlins in den Gesamtbereich der Beziehungen an; die
Sowjetunion habe zwar nichts dagegen einzuwenden, dass West-Berlin an der
Zusammenarbeit der beiden Staaten teilnehme, dies könne jedoch nur im Rah-
men des Vier-Mächte-Abkommens6 erfolgen. Aus diesem Grund sei es auch
nicht möglich gewesen, das Binnenschifffahrtsabkommen abzuschließen, weil
die Sowjetunion dem Führen der BRD-Flagge durch West-Berliner Schiffe nicht
zustimmen konnte. Die Sowjetunion ist jedoch zu einer weiteren Diskussion der
Berlin-Frage, mit dem Ziel eine gemeinsame Lösung zu finden, bereit.
3) In den Gesprächen Gorbatschow-Kohl habe die sowjetische Seite darauf hinge-
wiesen, dass man die NATO-Frühjahrstagung7 in Moskau differenziert bewerte:
Insbesondere die seitens der NATO zum Ausdruck gebrachte grundsätzliche Zu-
lässigkeit der Verwendung von Nuklearwaffen habe zu dem widersprüchlichen
Charakter der NATO-Beschlüsse beigetragen. Die Sowjetunion hätte gehofft, dass
eine derartige Einstellung bereits überwunden worden sei. Besonders beunru-
higt wäre man in Moskau über die Position der NATO in der Frage taktische
Nuklearwaffen.
4) Zur Lage in den anderen „sozialistischen“ Ländern habe Gorbatschow vor einer
im Westen immer wieder vorkommenden Differenzierung gewarnt: Sicherlich
würden in jedem der betroffenen Länder spezifische Gegebenheiten bestehen. Die
Sowjetunion gehe jedoch davon aus, dass die Entwicklung in allen diesen Län-
dern im Großen und Ganzen in die Richtung einer Festigung der demokratischen
Grundlagen gehe. Die konkreten Schritte jedes einzelnen Landes fielen hiebei je-
doch in die eigene souveräne Entscheidung. Es wäre nicht vernünftig, wenn man
versuchen sollte, die Lage in Osteuropa zu destabilisieren; damit würde man das
bereits Erreichte wieder einbüßen. Auch in dieser Frage wäre Zusammenarbeit
statt ideologischer Konfrontation vonnöten.
Wien, am 20. Juni 1989
Sucharipa m. p.
5 Siehe Dok. 41, Anm. 3.
6 Siehe Dok. 1, Anm. 15.
7 Gemeint ist die NATO-Gipfelkonferenz, die am 29./30. Mai 1989 in Brüssel stattfand. Siehe
dazu bereits Dok. 41, Anm. 2.
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Buch Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit"
Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99