Seite - 299 - in Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 - Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
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13.9.1989: Bericht Botschafter Bauer Dok. 54
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Die Haltung der österr. Behörden und der österr. Bevölkerung hat, so Genscher,
auf die deutsche Regierung, die deutsche Öffentlichkeit großen Eindruck gemacht
und wird nicht vergessen werden.
Er, Genscher, kann sich nicht vorstellen, dass ein Land wie Österreich, das eine
solche Haltung an den Tag gelegt hat, nicht Mitglied der EG werden sollte. Vorfälle
à la Eyskens2 dürften sich nicht wiederholen. Nicht die EG, sondern Österreich als
mündiges Land habe mit der SU zu sprechen. Anfang Oktober werde er bei einem
inoffiziellen Treffen dem französischen Außenminister Dumas3 diese Haltung
der deutschen Bundesregierung zum Ausdruck bringen.4
Das nachfolgende Gespräch behandelte die gegenwärtige Situation in der DDR.
Auf meine anschließende Frage, ob die Situation in der DDR eine Änderung
der Deutschlandpolitik der BRD mit sich bringen werde, sagte Genscher, dass er
alles tun werde, um die bisherige Deutschlandpolitik, nämlich die der Einbet-
tung in den gesamteuropäischen Rahmen, fortzusetzen. Jene in der BRD, die sich
aus diesem Kontext lösen wollten und einen nationalen Alleingang befürworten,
fügen dem Wiedervereinigungsgedanken schweren Schaden zu. Es bestehe aber
auch die Gefahr, dass die DDR, indem sie sich aus der osteuropäischen Reform-
politik löst, auch dem gesamteuropäischen Kontext (z. B. KSZE-Bereich) verlasse.
Ihm, Genscher, wäre es lieber, wenn sich die DDR nach der SU von Anfang an die
Spitze der osteuropäischen Reformbewegung gestellt hätte.
2 Auf der am 17. Juli 1989 in Brüssel stattfindenden Ratstagung versagte der belgische Außen-
minister Mark Eyskens als einziger der von seinem deutschen Kollegen Hans-Dietrich
Genscher initiierten sofortigen Behandlung der österreichischen Beitrittsanträge unter Ver-
weis auf die darin enthaltene „Neutralitätspassage“ seine Zustimmung. Beharre Österreich
auf die „immerwährende Neutralität“, könne es ein Problem geben. Der führende Politiker
der flämischen christdemokratischen Partei „Christen-Democratisch en Vlaams“ forderte
sogar, vor einer Beratung des Ministerrats erst Gespräche zwischen der EG und der UdSSR
anzuberaumen. Als außenpolitischer Affront wurde in Wien sein öffentlich gemachter Vor-
schlag empfunden, wonach die EG mit der UdSSR über die Möglichkeit einer Flexibilisie-
rung der österreichischen Neutralität in Verhandlungen eintreten könnten. Eyskens deutete
damit an, dass die österreichische Neutralität auch im Interesse der Sowjetunion liege. Die
Causa Austria war für Eyskens eine fundamentale Fragestellung für die Politik des Wes-
tens, aber auch für die Europäischen Gemeinschaften. Alte Neutralisierungsängste kamen
auf, als von der Sorge einer „finlandisation“ der EG die Rede war. Angesichts des EG-Bei-
trittswerbers mit explizitem Neutralitätsvorbehalt stand die westliche Politik nach Über-
zeugung Eyskens vor einer Wegscheide. Bundeskanzler Vranitzky ließ umgehend replizie-
ren, Österreich führe mit keinem Land Verhandlungen über seine selbstgewählte Neutralität.
Auch Vizekanzler Riegler wies die Ausführungen des Belgiers, der nicht in Abstimmung mit
seiner Regierung agiert hatte, kategorisch zurück, siehe Gehler, Vom Marshall-Plan zur EU,
S. 189–191.
3 Roland Dumas, Minister für Äußeres Frankreichs (1988–1993), siehe Personenregister mit
Funktionsangaben.
4 Außenminister Genscher kam am 26. Oktober 1989 in Paris zu einem Gespräch mit dem fran-
zösischen Außenminister Dumas zusammen. Siehe Gespräch des Bundesministers Genscher
mit dem französischen Außenminister Dumas in Paris, 26. Oktober 1989 (=
Dokument 17), in:
Die Einheit, S. 124–127.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99