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19.7.1990: Bericht Botschafter Hoess
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Dok. 164
Der Eindruck, Präsident Bush und Außenminister Baker seien über Ort, Zeit-
punkt und Gesprächsrahmen der Einigung überrascht gewesen, wird durch Er-
klärungen der Genannten gegenüber den Massenmedien unterstrichen und von
mit der Administration vertrauten Gesprächspartnern bestätigt.
Demnach sei man mit dem bisher bekanntgewordenen Inhalt der Einigung
einverstanden. Man hätte es aber vorgezogen, bei den entscheidenden Gesprächen
Mitredner gewesen zu sein, weil dies dem tatsächlichen Anteil des amerik. Prä-
sidenten am Zustandekommen der Einigung (vor allem Wortlaut der Londoner
NATO-Erklärung)6 besser entsprochen hätte.7
Einige Gesprächspartner verhehlen auch nicht ihre Überraschung über den
Fortschritt, den die deutsch-sowjetischen Gespräche, die schließlich zur Einigung
am 16. Juli8 geführt hätten, offenbar bereits vorher erzielt hätten. Ein Umstand,
der den Verbündeten von deutscher Seite nicht mitgeteilt worden sei. Ohne solche
Vorverhandlungen wäre nämlich eine Einigung technisch gar nicht möglich ge-
wesen. Gleichwohl sei man mit dem Ergebnis sehr zufrieden und Präsident Bush
habe dies auch in seinen Telefonaten am 16. Juli mit Gorbatschow (45 Minuten)
[und] mit Kohl zum Ausdruck gebracht.9
Etwas verunsichert zeigen sich manche Beobachter über Umfang und Inhalt
des vereinbarten Kooperationsabkommens bzw. eines Nichtangriffspaktes zwi-
schen Deutschland und der SU.10 Besonders letzter könnte nämlich die NATO
Doktrin-neu entscheidend berühren. Die Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands im
Bündnis könnte dadurch relativiert werden.
Überhaupt, so meinen diese Gesprächspartner, habe durch die von Gor-
batschow gewählte Symbolik hinsichtlich Art und personeller Zusammensetzung
der entscheidenden Gespräche ein neues Kapitel im Ringen um die Mitte Europas
und den Abzug der USA aus dieser Region begonnen. Es sei nämlich nicht auszu-
schließen, dass durch die Befristung des zu schließenden Stationierungsvertrages
für sowjetische Truppen in Ostelbien,11 der daran orientierte Vertrag betreffend
die künftige westliche Truppenpräsenz in Berlin in der deutschen Öffentlichkeit
die Neigung wachsen könnte, nach Ablauf der Stationierungsfrist für sowjetische
Truppen auch den Abzug der Bündnistruppen zu verlangen, womit ein seit vierzig
Jahren verfolgtes sowjetisches Ziel erreicht wäre.
Hoess
6 Siehe Dok. 159.
7 Der gesamte Absatz wurde am Seitenrand handschriftlich markiert.
8 Siehe dazu Dok. 161.
9 Das Telefonat Bush-Gorbatschow fand am 17. Juli 1990 statt. Siehe dazu Dokument 104, in:
The Last Superpower Summits. Auch das Gespräch Bush-Kohl fand am 17. Juli statt. Siehe
Dokument 355, in: Deutsche Einheit.
10 Hierbei handelte es sich offenbar um Nachwirkungen des „Rapallo-Syndroms“. Zum deutsch-
sowjetischen Vertrag von Rapallo vom 16. April 1922 siehe bereits Dok. 135, Anm. 10.
11 Der Begriff „Ostelbien“ bezeichnete die vormals preußischen Gebiete östlich der Elbe. Er
stand und steht synonymhaft auch für die DDR.
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Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Titel
- Österreich und die deutsche Frage 1987–1990
- Untertitel
- Vom Honecker-Besuch in Bonn bis zur Einheit
- Herausgeber
- Michael Gehler
- Maximilian Graf
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht Verlage
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35587-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 792
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Österreich und die deutsche Frage 1945–1990 7
- I. Vorbemerkungen 7
- II. Ausgangsbedingungen und Vorgeschichte: Von der „doppelten Staatsgründung“ zur Perpetuierung deutscher Zweistaatlichkeit (1949–1987) 11
- 1. Die Entwicklung bis zum Entscheidungs- und Zäsurjahr 1955 11
- 2. Gescheiterte Vermittlungsversuche (1958–1963) 19
- 3. Die Entwicklung bis zum Grundlagenvertrag 1972 23
- 4. Österreich, die europäische Integration und die Anerkennung der DDR im Zeichen der Entspannung (1961–1972) 28
- 5. Das Verhältnis Österreichs zu den beiden deutschen Staaten bis zum Bonn-Besuch Honeckers (1972–1987) 32
- III. Österreich und die deutsche Frage 1987–1990 38
- 1. Österreich und die scheinbare Stabilität des SED-Regimes 38
- 2. Die Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen und ihre direkten Folgen 43
- 3. Österreichs Annäherungen an das gemeinschaftliche Europa, die Bundesrepublik und die deutsche Frage 50
- 4. „Mauerfall“ und „Wiedervereinigung“: Die Haltung Österreichs bis Ende 1989 63
- 5. Österreich und die deutsche Frage Anfang 1990 75
- 6. Der Einigungsprozess und seine internationale Durchsetzung aus österreichischer Sicht 86
- 7. Österreichs Abschied von der DDR 92
- 8. Österreich, die deutsche Einheit und der Weg nach Europa – Bilanz und Ausblick 95
- IV. Editorische Vorbemerkungen 99