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Der Gebrauch des Texts als Sammlung und seine Visualisierung als Begriffs-
netzwerk führt die Möglichkeit vor Augen, dass eine mediale Konstellation, sofern
man diese auf einem anderen Niveau interpretiert und auswertet, als Sammlung me-
dialer Konstellationen erscheinen kann.74 Hierbei handelt es sich keineswegs um ein
neues Phänomen. Bereits 1913 hat der russische Mathematiker Andrej A. Markov
Alexander Puschkins Roman Evgenij Onegin einer statistischen Auswertung unter-
zogen. Anstatt den Roman als Texts zu behandeln, hat Markov diesen als Ansamm-
lung von Buchstaben betrachtet und nach der Wahrscheinlichkeit gefragt, mit der
in dieser Sammlung ein Buchstabe eines Typs (Vokal) auf einen Buchstaben eines
anderen Typs (Konsonant) folgt (vgl. Markov 2007 [1913]).75 Neu ist hingegen die
relative Einfachheit, mit der das Eine mithilfe von Computern als Vieles behandelt
bzw. das Viele als Einheit verarbeitet oder präsentiert werden kann.76
74 | TextArc vollzieht den Sprung von der semantischen Ebene des Texts auf
die Ebene der textuellen Bauelemente, an denen sich durch die Visualisierung
Strukturen, Relationen, Häufungen und Muster beobachten lassen. Im Anschluss an
den Literaturwissenschaftler Franco Moretti kann die Visualisierung von Texten als
TextArc als eine Form des Distant Reading beschrieben werden, das im Unterschied
zur Lektürepraxis des Close Reading vom Text als Analyseeinheit absieht: »Distant
reading: where distance [...] is a condition of knowledge: it allows you to focus on
units that are much smaller or much larger than the text: devices, themes, tropes
– or genres and systems. And if, between the very small and the very large, the text
itself disappears, well it is one of those cases when one can justifiably say, Less is
more« (Moretti 2000: 57). Siehe hierzu auch Morettis weiterführende Ausführungen
in Kurven, Karten, Stammbäume: Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte
(2009).
75 | Markov hat nicht den gesamten Text, sondern nur die ersten 20.000 Buchstaben
zugrunde gelegt, d.h. das ganze erste Kapitel sowie Teile des zweiten Kapitels (vgl.
Markov 2007 [1913]: 75).
76 | Die Behandlung literarischer Texte als Sammlung von Buchstaben oder
Worten ist in gewisser Weise kontraintuitiv, da uns ein Buch oder eine Webpage
ganz selbstverständlich als mediale Konstellation und eine Bibliothek oder das
Internet ebenso selbstverständlich als (An-)Sammlung medialer Konstellationen
erscheint. Dieser Eindruck leitet sich zum Teil aus den stofflichen Eigenschaften
von Medienobjekten ab, deren Einheit medienhistorisch unter anderem auch
materiell verbürgt wurde. Das Buch, der Brief, das Gemälde, das Telegramm, die
Zeitung, die Zeichnung etc. bilden Einheiten, auch weil sie wohlunterscheidbare
physische Objekte sind. Wie Foucault in Bezug auf die Frage nach der Identität
von Aussagen herausgestellt hat, ist diese jedoch nicht ausschlieĂźlich auf die
materiellen Eigenschaften von Medienobjekten zurückzuführen. Die Identität von
Aussagen beruht auf der Aufhebung von Unterschieden: Diese »werden alle in dem
allgemeinen – selbstverständlich materiellen, aber gleichzeitig institutionellen und
ökonomischen – Element des ›Buches‹ neutralisiert: ein Buch ist unabhängig von
Digitale Datenbanken
Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data
- Title
- Digitale Datenbanken
- Subtitle
- Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data
- Author
- Marcus Burkhardt
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3028-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 392
- Category
- Informatik
Table of contents
- Medium: Zwischen Konstellationen und Konfigurationen 21
- Die Frage nach den Medien 22
- Wann sind Medien? 33
- Ăśber Medien reden: Medienepistemologie 58
- Computer: Zwischen Oberfläche und Tiefe 73
- Phänomeno-Technische Konfigurationen 75
- Spielräume der computertechnischen Informationsvermittlung 95
- Datenbank: Zwischen digitalen Sammlungen und Sammlungstechnologien 117
- Was sind Datenbanken? 121
- Datenbanklogiken: Zur Datenbank als symbolischer Form 131
- Gegen die Datenbank als Prinzip: Mikrologiken der digitalen Datenhaltung 145
- Banken, Basen, Reservoirs: Information Storage and Retrieval 149
- Information: Zwischen begrifflicher Abstraktion und technischer Konkretion 150
- Kommunikation mit Informationssammlungen 167
- Daten und Information: Begriffsklärung 187
- Techno-Logik: Apparaturen, Architekturen, Verfahren 205
- Direct Access: Zur Festplatte als Herausforderung digitaler Datenbanken 206
- Datenbankmodelle: Architekturen für Datenunabhängigkeit 221
- Data + Access: Datenmodelle und Algorithmen 242