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Kriegsgefangenschaft 102
3. Juli. Ich fiebere stark, nehme Aspirin und schwitze eine Nacht, scheint Influenza zu sein.
Nachmittags in Pyacebka können wir im Bahnrestaurant essen.
4. Juli Auf allen Stationen viel Volk in bunten Trachten, schon viel asiatisches. Auffallend
kein junger Mann. Knaben und alte Männer. Bahn- und Feldarbeiten fast nur Mädchen  !
5. Juli 5h Morgens an Kassan; in alter, schauderhafter Brauerei bei zirka 100 Offizieren
untergebracht, Läuse und Wanzen übervoll. Elende Nacht verbracht  ! Nichts zu Essen,
kein Geld  !
Am 6. Juli wurden die Gefangenen auf der Wolga mit einem Dampfschiff in das Lager
in Tetjuschin [  = Tetjushi 
] gebracht, wo sie fĂĽr mehrere Monate blieben und damit das
erste Mal mit dem Alltagsleben in einem Gefangenenlager konfrontiert waren. Die Offi-
ziere wurden in einem ehemaligen Teehaus untergebracht, wobei Rolf besonders unter
dem Lärm in der Nacht litt, wie er in der Tagebuchaufzeichnung vom 9. und 10. August
berichtet: »Auffallend ist der Lärm in der Nacht; alle Gefangenen sprechen oder schrei-
en sogar im Schlaf; scheinbar eine Folge der Nerven. In schlaflosen Stunden kann man
hören wie einzelne Herren im Schlafe sogar auf die Äußerungen anderer eingehen 
!«
Da die Offiziere von der Arbeitspflicht befreit waren und auch innerhalb des Lagers
keinen Dienst zu verrichten hatten und da sogar persönliche Verrichtungen wie das Rei-
nigen der Wäsche von den »Burschen« erledigt wurde, verlief der Alltag der Offiziere in
quälender Langeweile. Viele reagierten mit einem außergewöhnlichen Schlafbedürfnis,
aber auch mit Unruhe, Missmut und Reizbarkeit – ein Zustand, der später die Bezeich-
nung »Stacheldrahtkrankheit« erhielt. Elsa Brändström schildert eine diesbezügliche Si-
tuation, die später ganz ähnlich in Rolfs Tagebucheintragung vom 29. 9. aufscheint: »Die-
se große Gereiztheit lässt die Gefangenen hinter jeder harmlosen Äußerung eine Absicht
sehen – und die angeblich gekränkte Ehre fordert Genugtuung. So entstanden die un-
zähligen Ehrenhändel, die sie unter sich mit den ausführlichsten Protokollen in der fes-
ten Absicht führten, sie in der Zukunft weiter zu verfolgen«. (  S. 92  )
Viele, wie etwa auch Rolf, beschäftigten sich allerdings intensiv mit sportlicher Betä-
tigung, und hier insbesondere dem FuĂźballspiel, erlernten Fremdsprachen oder vertrie-
ben sich die Zeit mit sonstigen Aktivitäten:
4., 5. Aug. Sehr verschieden ist die Beschäftigung der einzelnen Herren; die meisten ler-
nen Sprachen, besonders Französisch und Russisch wird betrieben, viele üben auch Ste-
nographie, andere zeichnen unaufhörlich, das Schachspiel ist ungemein verbreitet und
ein Herr im 1. Stock bearbeitet fleiĂźig eine Violine. Einige Herren vereinigten sich zu ei-
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273