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Kriegsgefangenschaft 104
Ungezieferplage auch zu den gefürchteten Flecktyphus-Epidemien, bei denen eine gro-
ße Zahl an Gefangenen den Tod fand.
Mehrmals allerdings zeigt sich in den Tagebucheintragungen, mit denen Rolf seinen
Aufenthalt in den verschiedenen Lagern dokumentierte, ein Phänomen, das den heuti-
gen Vorstellungen von Gefangenenlagern irritierend widerspricht: Die gefangenen Of-
fiziere konnten nicht nur Zeitungen und Lebensmittel in den jeweils nahe gelegenen
Orten kaufen. Sondern Rolf berichtet beispielsweise auch von einem Zahnarztbesuch
in einer nahe gelegenen Stadt, in dessen Anschluss er gleich einkaufen war, um sodann
auf der Post seine Briefe herauszusuchen. Weiter erfährt man vom Kauf eines Pelzman-
tels, von Büchern etc., und die Offiziere konnten sogar einen Fußball »kommen lassen«,
wie Rolf in einer der Eintragungen im August 1915 berichtet:
11., 12.Aug. Das Wetter wird immer unfreundlicher, fast täglich Regen – dabei ziemlich
kühl. Wir haben aus Kasan einen wirklichen Fußball kommen lassen und damit wird täg-
lich nachmittags zwei Stunden statt des Guljat [ Spaziergangs ] gespielt. Fast alle Herren
beteiligen sich und gehen die ersten Tage ganz krumm vor Muskelschmerzen.
14.–16.Aug. Die schönen Nachrichten die wir aus den Zeitungen erhalten richten uns
alle auf; die Erfolge sind so gewaltige, daß wir uns sogar für den Glauben hinreißen
lassen es könne bald ein Friede mit Rußland zustande kommen und unsere Heim-
kehr erfolgen.
Hintergrund dieser Äußerung Rolfs ist die Tatsache, dass nach der erfolgreichen Schlacht
von Tarnow-Gorlice Anfang Mai 1915, an der Rolf noch beteiligt gewesen war, am 1. Juli
eine große Offensive der Mittelmächte gestartet wurde, die unter anderem zur Einnah-
me von Warschau, Brest-Litowsk, Grodno und Wilna führte. Rolf fährt in seiner Schilde-
rung des Widerhalls dieser Offensive unter den gefangenen deutschen und österreichi-
schen Offizieren mit den Worten fort:
Es haben sich zwei Lager gebildet; Optimisten und Pessimisten, die sich gerne bekrie-
gen. Interessant ist, daß uns die tartarischen Kaufleute die Erfolge unserer Truppen meist
schon Tage vorher sagen, ehe sie in Zeitungen zu lesen sind. Überhaupt scheint die tar-
tarische Bevölkerung auf die Russen und auf die Regierung nicht sehr gut zu sprechen
zu sein. Nur die strenge Polizei hält alles im Zaum, auch unsere Bedeckungssoldaten, die
vor ihnen große Angst haben.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273