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Kriegsgefangenschaft 120
nie zu solch drastischen Ausschweifungen, wie sie aufseiten der Wachmannschaften auf
der Tagesordnung waren und unter denen die Gefangenen wiederholt zu leiden hatten.
Die zermĂĽrbende Monotonie von Rolfs Gefangenenalltag in Dauria spiegelt sich vor
allem darin wider, dass es nun zu groĂźen zeitlichen Unterbrechungen in seinen Tage-
bucheintragungen kommt. Im November 1915 erstrecken sich die BerichtslĂĽcken zum
Teil bereits über eine ganze Woche, im Jänner 1916 wird sodann fast die gesamte zwei-
te Monatshälfte ausgeblendet. Nach fast krampfhaft positiv gestimmt wirkenden Ein-
trägen unmittelbar nach dem Jahreswechsel, die von der Hoffnung getragen scheinen,
dass nun zumindest die Kommunikation mit der Familie leichter wird, erfolgte offenbar
eine Ernüchterung, der sich Rolf mehr und mehr mit einer selbstgewählten Studier- und
Arbeitswut zu entziehen versucht.
Vorerst jedoch verläuft der Alltag im Lager noch fast gänzlich ohne Höhen und Tie-
fen, wenngleich Rolf zusehends die Betrunkenheit der Wachmannschaften und die Zu-
stände bei den einfachen Soldaten thematisiert:
28. Nov. Nachmittags Violin- Laute und Gesangsvorträge zu Gunsten der Tiroler Kaiser-
jäger. Sehr besucht und sehr nette Leistungen. Über 40 Rubel eingegangen. Wir sind nur
drei T. K. J. Offiziere hier, Hauptmann Rosanelli, Lt. Milegger und ich.
2. Dez. Nachmittags hatte ich Besuch von Oblt. Grießmann und Lt. Milegger 2.T. K. J. –
Professor, Bildhauer. Er hatte fĂĽr die verstorbenen Ă–sterreicher am hieĂźigen Friedhof ein
Denkmal geschaffen, das aber die Russen schon wenige Tage nach der Fertigstellung
beschädigten, indem sie einer Maske die Nase abschlugen (  Man sagt es könnten auch
Ungarn gewesen sein, die sich ärgerten, dass keine ungarische Inschrift darauf ist 
!  ?  !  )
3. Dez. Bisher war ich täglich mindestens zwei Stunden draußen, ging den ungeheuren
Kasernenplatz einige male herum und lernte recht laut Rumänisch; war es zu windig so
stand ich, von einem kleinen Haus geschĂĽtzt.
4. Dez. Die Tage sind bedeutend kälter geworden. Durchschnittlich -30 ° C. Tagsüber un-
ausgesetzt schneidender Wind, nur die Nächte ruhig. Dabei scheint die Sonne unaus-
gesetzt und rechtfertigt uns den Namen unseres Ortes Dauria d. h. Sonnenland. Seit ich
hier, war die Sonne höchstens 5 mal für mehr als eine Stunde verdeckt. Nachmittags bei
Oblt. Griesmann zu Besuch.
5. Dez. Vormittags Messe im Saal; Offizierskor singt die Schubertmesse. Nachmittags
Vorträge des reichsdeutschen und des österreichischen Mannschaftskores. Besonders
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273