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Kriegsgefangenschaft 124
denen er Briefe von und an seine Frau vermerkt, durchwegs ihren Beinamen »Mädy«
verwendet.
26. Dez. Wundervoll schöne Kristtage. Still, sonnig, auch die Kälte hat etwas nachgege-
ben dürfte nicht viel über 20 ° sein.
27. Dez. Bei letzthin angekommenen Gefangenentransporten sieht es recht traurig aus.
Die meisten haben nur mangelhafte Kleider alle sind ausgehungert und unterernährt
!
Am Tag nach der Ankunft mußten über 300 in die Spitalbaracke gebracht. Täglich sterben
einige, einen dieser Tage wurden 9 Leichen zugleich hinausgetragen. Entsetzlich sind die
Leichen, die buchstäblich verhungert waren. Nur Knochen und Haut, dabei haben vie-
le durch Rheuma verstümmelte Glieder, so daß vielen der Sargdeckel nicht geschlossen
werden kann, mit halb darüber gelegten werden sie hinausgetragen. Dieser Tage starb
auch einer an schwarzen Blattern, doch scheint es bei dem Fall zu bleiben.
Die Russen halten fleißig Kontrolle nach Alkohol, in diesen Tagen ist ja auch zu fin-
den. Aber in diesem einzigen Falle scheinen sie menschlich mitzufühlen denn sie neh-
men es nicht genau und manchmal rein der Form halber. Merkwürdig ist das strenge
russische Alkoholverbot das mit unglaublicher Anstrengung überall durchgeführt und
kontrolliert wird. Und doch kann man von jedem russischen Soldaten, vom Sprit bis zum
Kognak, alles und so viel kaufen als man nur will; freilich Zivilpersonen lassen sie nicht
gerne zur Konkurrenz zu. Es muß sehr viel aus der Mandschurei eingeschmuggelt wer-
den, auch Tabak, Zündhölzer u.s.w.
30. Dez. Man kann bei uns in der Silvesternacht nicht so viele Betrunkene sehen als hier
täglich, trotz des Alkoholverbotes. Unsere Wachmannschaft im Hause ist jeden zweiten
Tag betrunken, und ihr Starschi, im Zimmer neben mir ist auch darin der Führer.
31. Dez. Nachmittags gehen einige Gefangene vor mir an einem schönen Hund vorbei;
da fange ich gerade die Worte auf: »Dos war wieder a feina Rehrucken !«28
Abend bin ich alleine zuhause. Lese und warte bis es 12 Uhr wird. Schreibe dann
eine Sylvesterkarte an Mädi und trink ein Glas Csai auf ihr Wohl, dann gehe ich schla-
fen. – Aber im zweitanschließendem Zimmer bei den Magyaren werden schwere Alko-
holorgien gefeiert und ist ein wüster, endloser Lärm. Gegen 2 Uhr kommt auch mein
Zimmergenosse heim.
28 »Das wäre wieder ein feiner Rehrücken« = Rehbraten
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273