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Die Jahre in Sibirien 125
1916
1. Jänn. Viel Glück muß ich mir selber wünschen fürs neue Jahr, daß uns endlich Alles wer-
de, was wir im Alten missen mußten  !
2. Jänn. Nachmittags recht schöne Einzel- und Korvorträge für die Unterstützung des
letzten Gefängnistransportes. Über 100 Rubel Reinerträgnis. Ich warte jetzt schon täg-
lich auf die erste Nachricht von zuhause  ! Schreibe täglich Karten an Mädi und Mama
und schicke sie jeden Tag ĂĽber einen anderen Vermittlungsweg, meist auch eine Karte
den gewöhnlichen Weg.
9.–14. Jänn. Die Russen haben jetzt Weihnachtsfeiertage. Unsere Wachmannschaft
kommt daher aus dem Rausch und Lärmen gar nicht mehr heraus. Morgens schon sind
sie voll und brĂĽllen und abend wird erst Ruhe bis der letzte ausser Stande ist das Maul
aufzumachen. Häufig kann man sehen wie ein stocksteifer Russe an Händen und Füßen
von anderen über die Schneefläche geschleift wird, hin zum Spital, um die Alkoholver-
giftung dort zu heilen.
Kürzlich ist ein kleiner Transport angekommen, sind im ungeheiztem Stallgebäude
untergebracht  ! Entsetzliche Zustände. Täglich gehen jetzt über 10 Leichen hinaus.
Die Zustände werden immer schlechter, heute wurden 62 Leichen zur gleichen Zeit
hinaus befördert, man gibt ihnen nichtmals mehr die einfachen Särge von früher, man
führt sie auf Wagen gehäuft weg.
Recht seltsame Himmelserscheinungen sind zu sehen. Einmal war das Kältekreuz
zu sehen, soll nur bei sehr großer Kälte sichtbar sein. Öfters sind zwei Sonnen, eine im
rechten Winkel zur wirklichen, manchmals sogar 4 Sonnen quadratisch, die Bilder an
Helle vom Urbild nicht zu unterscheiden. Von vielen anderen Erscheinungen erzählen
noch Kameraden.
15. Jänn. Endlich kam eine so lange ersehnte Nachricht, Mädi telegrafiert aus Buka-
rest »Nous sommes tous bien – Mädy« – so kurz die Nachricht lautet kann ich sie nicht
oft genug lesen und freut sie mich ungemein. Die letzte Zeit war ich durch das lan-
ge Schweigen schon recht besorgt gewesen. Nun weiĂź ich doch fĂĽrs erste und sol-
len mir wohl auch bald Briefe Näheres berichten. Ich schreibe fast täglich, und nun
wird wohl noch mehr werden.
In der letzten Zeit konnte ich mir leihweise eine Kunstgeschichte, wenn auch eine
recht minderwertige, beschaffen und beschäftige mich darin mit großer Freude. Mache
mir meine Gedanken und Notizen und versuche dies und jenes und glaube schon in ei-
nigen Punkten einen Schritt weiter gekommen zu sein.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273