Page - 127 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Die Jahre in Sibirien 127
tergebracht waren und die entsprechenden Gebäude sich nur geringfügig von den an-
schließenden Wohnhäusern unterschieden. Das Kaufhaus Wertheim hingegen war über
alle Etagen auf den Geschäftszweck hin konzipiert, weshalb es nicht nur wegen seiner
Größe, sondern auch aufgrund der völlig neuen Gestaltungsweise weit über die Grenzen
Deutschlands bekannt geworden war. Die langgestreckte Fassade an der Leipzigerstraße
war in Pfeiler aufgelöst, die in einem Zug vom Bürgersteig bis unters Dach emporstreb-
ten, während die Zwischenräume mit Verglasungen versehen waren, die in allen Stock-
werken raumhohe Fenster entstehen ließen. Dieses Prinzip der Mauerauflösung war in
dieser Konsequenz bislang nur in der Gotik zu beobachten gewesen, und Messel ver-
stand es meisterhaft, den beeindruckenden Habitus einer gotischen Kathedrale für die
Inszenierung neuer »Werte« – nämlich der Warenwelt – zu verarbeiten. Die Bezeich-
nung »Kathedrale des Konsums« wurde in der Folge zum gebräuchlichen Schlagwort
nicht nur angesichts dieses Kaufhauses, sondern auch im Hinblick auf die zunehmen-
de Anzahl weiterer Warenhäuser, die das Kauferlebnis durch ihre Gestaltungsweise zu
einer feierlichen, in ihrer Noblesse geradezu ritualisierten Handlung emporstilisierten.
Bemerkenswert ist, dass Messel die Modifikation der Gotik ebenso plakativ wie spiele-
risch vortrug, indem er gotisches Maßwerk und Fialen umformulierte und gekonnt in
die monumentale Fassade integrierte.
Wenngleich Rolf bei seinem Kaufhausentwurf anders als bei der Protestantischen Kir-
che auf den ersten Blick wenig von seiner Vorlage übernahm, so ist doch auffallend, dass
er ebenfalls gotische Konstruktionsprinzipien zur Durchfensterung der Außenwand an-
wandte und wie Messel modifiziertes gotisches Formenvokabular in die formale Gestal-
tung einfließen ließ. (Abb. 58 und 59) Dieses Faktum ist umso bemerkenswerter, als Rolf
als ehemaligem Studenten der Technischen Hochschule und Wagner-Schüler die Kon-
troverse zwischen Historisten und Modernen geläufig war, als deren Ergebnis der goti-
sche Stil im Profanbau für obsolet erklärt wurde und die Neogotik selbst in konservati-
ven Architektenkreisen nur mehr für den Kirchenbau empfohlen wurde.
Rolfs Skizze für das Kaufhaus, die er zwischen 1916 und 1918 erstellte, ist denn auch
keineswegs als Studie in Richtung einer Realisierung zu verstehen, sondern trägt viel-
mehr den Charakter einer reflexiven Auseinandersetzung mit jenem ästhetischen Span-
nungsfeld, das sich zwischen Moderne und Historismus aufgetan hatte und das die eu-
ropäische Architektur nach wie vor maßgeblich prägte. Die Skizze ist aber sicher ebenso
sehr als zeichnerische »Fingerübung« zu sehen, mit der Rolf seine grafischen Fertigkei-
ten als Architekt trainierte, um sich für die Zeit nach der Gefangenschaft vorzubereiten.
Allerdings konnte sich Rolf stets nur vorübergehend und nie ausschließlich seinen
Studien widmen, wurde er doch fortwährend von den Unannehmlichkeiten des Lagerall-
tags eingeholt, wie aus seinen weiteren Tagebucheintragungen hervorgeht:
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273