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Kriegsgefangenschaft 136
wie die Großmutter Maria Margaretes mussten der Mutter mit dem toten kleinen Kör-
per in den Armen gegenübertreten.
Wiederum findet sich in Rolfs Tagebuch keinerlei Hinweis auf die Gefühle und die
Trauer, die ihn angesichts dieser Nachricht bewegt haben müssen. Als erratischer Ein-
schub verfügt der Nachtrag vom 8. Mai dennoch über eine herausragende Stellung, auch
wenn das Lagerleben seinen ebenso monotonen wie tristen Gang ungebrochen weiter-
zugehen scheint. In seinen chronologischen Tagebuchaufzeichnungen ist Rolf vorerst
aber noch gänzlich ahnungslos:
6. Juni Abwechselnd ein warmer Tag mit mehreren recht kalten und stürmischen. Selten
noch Frost, aber in den Gruben noch viel Eis. Boden höchstens 30–40 cm aufgetaut. Ei-
nige Schwalben, viele Raubvögel und Wildgänse und Enten. An Blumen recht spärlich
Küchenschelle, Vergissmeinnicht, Wicke, alle ganz klein und kurzstielig und eine ganz
verkümmerte Art von Schwertlilien. Es sind sehr viele Hunde im Lager, die an uns recht
hängen, während sie alle Russen direkt angehen, das ist höchst sonderbar. Und weil sie
schon einige russische Soldaten gebissen und ihre Mäntel zerrißen ist schon wiederholt
der Befehl gekommen, alle Hunde zu vertilgen, dann werden jedes mal einige mit ei-
nem Strick erwürgt und gleich liegen gelassen wo es eben war.
Von Mädi häufiger Nachricht leider scheint es um die Kleine noch immer schlecht zu
stehen. – Ich treibe mich jetzt so viel das Wetter günstig ist im Freien herum und spiele
überall mit, Schlag-, Faust-, Fußball, Tennis, Kegel. Ich will den Sommer recht für die Ge-
sundheit und die Erinnerung an daheim nützen; ich bin überzeugt, dass wir den kom-
menden langen Winter doch noch hier sind, wenn auch die letzten Nachrichten recht
günstige Erfolge melden. Seit langer Zeit sind schon viele Gefangenentransporte zurück
nach Europa durchgefahren, sie sollen alle auf Arbeit, aber natürlich schließen sich da-
ran alle möglichen Mutmaßungen und Wünsche. Nun ist unser Lager an der Reihe und
60 Grabsteine am
Lagerfriedhof von
Dauria
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273