Page - 137 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Die Jahre in Sibirien 137
schon einige Transporte abgefahren. Wir werden zu solchen Zeiten immer sehr streng
bewacht und ĂĽberprĂĽft. Gestern sagte mir der russische Kommandant, es sei ein FlĂĽch-
tiger = Oberhuber, Inf. Reg. 84, wo drausen von den Buriatten erschossen worden [  Buri-
aten = ethnische Gruppe in der Nordmongolei  ]; ob es war ist  ? – Ich habe Grabsteine für
die verstorbenen Mediziner, Einjährigen u.s.w. entworfen, Bildhauer Mühlegger führt sie
jetzt aus und in einigen Wochen hoffen wir sie auf den Friedhof zu bringen. (Abb. 60) –
Nachmittags: man bringt richtig die Leiche Oberhubers auf einem Wagen mit zwei Kon-
vois und zwei Mann von uns ein. Er war etwa 20 Werst entfernt. Hatte Kopf- und Brust-
schuĂź, angeblich von Kosaken, da er sich mit Messer zur Wehr gesetzt haben soll.
17. Juni. Mittags ein Brief von Ernst, abend einer von Mädi und einer vom Vater. Und alle
dreie bringen mir nur das selbe UnglĂĽck: Unsere arme Kleine: Maria Margareta ist ver-
storben; und die arme Mädi nach all den langen Sorgen nun gar noch ganz alleine. Wie
lange wird dies noch dauern bis ich sie selber werde trösten können  ?
Wie gesagt, verliert Rolf weiter kein Wort zum Tod seiner Tochter. Die Nachricht muss
wie ein Schock auf ihn gewirkt haben, und sein Schweigen ist deshalb nur ein weiterer
Beleg dafür, dass er sich in Gefühlsdingen in keinster Weise mitteilen konnte – weder in
seinem Tagebuch noch gegenĂĽber seiner Frau oder anderen Menschen, die ihm nahe-
standen. Der Krieg und die nun schon ĂĽber ein Jahr dauernde Gefangenschaft machten
den Umgang mit seinen eigenen Gefühlen für Rolf nicht leichter. Wie die zeitgenössi-
schen Quellen belegen, haben viele Gefangene nicht nur physisch unter den Lagerbe-
dingungen, sondern vor allem auch unter dem Abbruch der Kontakte bzw. der Tren-
nung von ihrer Familie gelitten und längere Gefangenschaft häufig nur als psychische
Wracks ĂĽberlebt.
19. Juni Es sind recht traurige Zeiten. Die Nachrichten von der galizischen Front sind recht
drĂĽckend fĂĽr uns, wenn wir auch alle Zuversicht haben und wissen, daĂź die Russen bald
wieder zurĂĽckgetrieben sein werden.
Unsere Verhältnisse hier werden auch täglich schlechter. Alles ist ungemeine teuer
geworden und wir können nur in der Lafka [  Kantine  ] des russischen Oberst kaufen sind
also ausgeliefert. Einmal gibt es keinen Zucker; lange war kein Salz und musste mit Glau-
bersalz gekocht werden was viele nicht vertrugen [  Glaubersalz = leichtes Abführmittel  ].
Mehl ist häufig gar keines. Fleisch kommt für alle Offiziere, russische und gefangene nur
ein bestimmtes Quantum, die Russen erhalten davon das beste und genĂĽgend und fĂĽr
uns bleibt dann nur etwas Knochenzeug. So muĂź das Fleisch auf einzelne Mahlzeiten
gespart werden sonst ist nichts daraus zu machen. GemĂĽse gibt es ĂĽberhaupt keines.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273