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Kriegsgefangenschaft 156
bringen wusste, ist auch der Rahmen fĂĽr die Repatriierung der gegnerischen Gefangenen
von 1918–1920 gesetzt.«35
Immerhin wurden bis Ende 1918 alle Gefangenen aus dem europäischen Teil Russ-
lands heimtransportiert. Die in Sibirien verbliebenen rund 400.  000 Gefangenen befan-
den sich hingegen im Einflussgebiet der »Weißen« und später der Tschechoslowaken,
die die Lager streng und häufig revanchistisch kontrollierten. Die Heimkehr dieser Ge-
fangenen war deshalb zum Großteil erst nach dem Sieg der Sowjetarmee 1920 möglich.
Die Tschechen hatten schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit den
Slowaken militärische Verbände gebildet, die in Frankreich, Italien und in Russland auf-
gestellt worden waren und die die Erlangung der Freiheit und Unabhängigkeit von Ös-
terreich-Ungarn sowie die Anerkennung der Tschechoslowakei als souveränen Staat zum
Ziel hatten. Eine besondere Rolle spielte die sogenannte Tschechoslowakische Legion
im russischen BĂĽrgerkrieg. Diese Legion bestand ĂĽberwiegend aus ehemaligen Kriegs-
gefangenen und Überläufern und war bereits unter der Zarenherrschaft gebildet wor-
den. Nach der MachtĂĽbernahme durch die Bolschewiki gelang es ihr, in Abstimmung
mit der Entente ein Abkommen abzuschlieĂźen, das ihren Mitgliedern bewaffnete Neut-
ralität und freien Abzug aus Russland nach Frankreich zusicherte. Dort sollte die Tsche-
choslowakische Legion in die Westfront eingegliedert werden. Die Truppe befand sich
bereits auf der Bahnlinie zwischen der mittleren Wolga und dem sibirischen Irkutsk, als
es zu einem Zwischenfall mit ungarischen Kriegsgefangenen kam. Leo Trotzki, der kurz
zuvor installierte Kriegskommissar der Bolschewiki, stoppte daraufhin den Abzug und
befahl die gewaltsame Entwaffnung der Tschechoslowaken. Die Legion widersetzte sich
allerdings, und in der Nacht zum 25. Mai 1918 reagierte sie mitten im Gebiet der Sow-
jetunion mit einem formidablen Aufstand: Die Tschechoslowaken hielten alle Heimkeh-
rerzüge auf, entmachteten die örtlichen Sowjets und brachten die gesamte transsibiri-
sche Bahn in ihre Gewalt.
Auch Rolf und seine Kameraden fanden sich mehrmals in diese Auseinandersetzun-
gen involviert. Die Kriegsgefangenen gerieten dabei mehr und mehr zwischen die inner-
staatlichen Fronten, und dementsprechend hoffnungslos und zufallsbehaftet gestaltete
sich ihre persönliche Situation. Im allgemeinen Chaos flohen viele aus den Lagern, um
auf eigene Faust in die Heimat zu gelangen. Sie strömten scharenweise in die großen
Städte, wo die Bevölkerung im letzten Kriegsjahr unter großem Hunger litt, und dem-
entsprechend groĂźe Entbehrungen mussten auch diese Soldaten auf ihrem Weg nach
35 R. Nachtigal: Die Repatriierung der Mittelmächte-Gefangenen aus dem revolutionären Russ-
land. In: J. Oltmer ( 
Hrsg. 
): Kriegsgefangene in Europa im Ersten Weltkrieg. Paderborn u. a. 2006,
S. 241
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273