Page - 157 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Die Jahre in Sibirien 157
Hause erleiden. Auch Hygiene und medizinische Versorgung verschlechterten sich wei-
ter während dieser Phase des Bürgerkriegs, sodass in der Folge viele Gefangene an Hun-
ger und Krankheiten verstarben.
Rolf hingegen hoffte, im Zuge eines Invalidenaustausches der Gefangenschaft zu ent-
rinnen, wie er in einem Brief am 21. 2. 1918 an seine Frau Hermine schreibt: »Wohl haben
uns die letzten Nachrichten recht aus der Hoffnung eines baldigen Endes herausgeris-
sen, aber ganz geben wir sie doch noch nicht auf. Wenn nicht anders so bleibt uns die
Hoffnung auf teilweisen Austausch. Ich schrieb dir ja schon öfters, dass so viele Kamera-
den zum sogenannten Invalidenaustausch fahren. Wenn man nur von daheim verlangt
wird, dann ist man schon ziemlich sicher. [  …  ] Meine Kontusion des Knies und dazu die
beruflichen Einbußen in Folge des Krieges könnten nach den bisherigen Erfahrungen
wohl hinreichen. [  …  ] wenn es möglich, wär es wohl zu schön; und zu sehen wie Kame-
rad um Kamerad das Glück hat heimzukommen ist auch zu schwer«. Rolf erwähnt die
Namen einiger Kameraden, die bereits heimgekehrt sind und bei denen sich seine Frau
Ratschläge holen sollte. Dieser im Februar 1918 geschriebene Brief befand sich im Ok-
tober 1918 allerdings erst in Kopenhagen, und als er endlich in Wien anlangte, war Rolf
bereits dem strengen Lagerregime der Tschechoslowaken unterstellt. Eine Heimkehr –
selbst mittels Austausches – war damit unmöglich geworden, wie die Tagebucheintra-
gung vom 24. 5. 18 belegt.
Die chaotischen Zustände dieser Zeit schlagen sich auch in Rolfs Tagebucheintra-
gungen nieder, indem er nun an manchen Tagen gleich zwei Eintragungen vornimmt –
wobei sich diese Eintragungen inhaltlich eher überschneiden als ergänzen –, während
im selben Zeitraum ganze Wochen undokumentiert sind. Besonders auffallend sind
die jeweils einen ganzen Monat umfassenden Eintragungslücken von Mitte März bis
Mitte April und von da an wiederum bis Mitte Mai, obwohl die gefangenen Offiziere
in dieser Zeit in permanenter Unsicherheit bezĂĽglich ihrer weiteren Zukunft gelebt ha-
ben mĂĽssen.
3. Jänn. [  zwei Eintragungen zu diesem Datum  !  ] Große Aufregung unter den Russen.
Hiesige russische Abteilung besteht aus Bolschewiken; aus Mandschuria36 kam von den
Kosaken ein Telegramm, dass die Waffen binnen zwei Stunden zu strecken sind.– Nach-
mittag laufen alle Russen mit ihren Kofferln auf die Station, nachdem sie die Gewehre
weggeworfen und aus ihren Magazinen alles brauchbare herausgerissen. Nachts halten
bei der russischen Kommandokasse und Fahne drei unserer Soldaten Wache  !
36 Mandschuria / Manzhouki, chinesische Grenzstadt zu Russland.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273