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Kriegsgefangenschaft 160
15. März [  zwei Eintragungen  ] Nach zwei so fast schlaflosen Nächten wagonieren wir am
15. 3. 1918 endlich in Antipicha aus. Nach vielen Widerwärtigkeiten kommen wir im Kriegs-
lager aus dem russisch-japanischen Krieg in recht gute Quartiere. Wohne mit Kolt Corp.
Russen38 in nettem kleinen Zimmer. Hier herrscht die Rote Garde, die uns natĂĽrlich kei-
ne Gage oder Begünstigung gegenüber der Mannschaft einräumen will. Aber in Tschi-
ta ist Rote Kreuz-Station.
15. März Auswagonierung in Antipicha. Seit langer Zeit wieder menschliche Quartiere
(  russ. Offizierswohnungen  ) zu zweien ein kleines Zimmer. – Immer wieder Aufregungen;
man will uns ausquartieren in Baracken, dann nach Pjestschanka [  ein Lager östlich von
Tschita  ]; aber es gelingt uns immer zu vereiteln. Schöne Waldumgebung und Fluß – In-
goda – wohl noch tiefer Winter, aber laufen viel spazieren. – Viele Gerüchte über Rote
Garde, bei der viele unserer Leute, besonders Ungarn beigetreten sind.
14. April Morgen das Lager von Roter Garde umstellt, darf niemand hinaus. Mittags
kommt Verstärkung, Maschinengewehre im Hof aufgestellt. Dann gehen die Herren
Rote Garde in alle Zimmer und plĂĽndern unter Vorwand des Kommunismus fĂĽr Kamera-
den im Spital etc. was ihnen beliebt, Kleider, Schuhe weil diese hier sehr wertvoll ziem-
lich alles was man nicht am Leib hat; Wäsche über 3 Garnituren, Geld über 120 Rubel,
Zucker, Konserven etc. fast alles. – Dann empfehlen sie sich und kündigen aber noch
weitere Transporte an. – Wirklich kommen in nächsten Tagen weitere Transporte; aber
beschränken sich das Tragen von Distinktionen zu verbieten, und sie einzelnen Herren
herabzureissen. Die Lage verschärft sich aber immer mehr, man spricht von neuerli-
cher Bewachung, dazu kommt Semionow immer näher, man hat Angst, dass er Tschita
einnehmen werde. Wieder werden Schritte unternommen, uns weiter zu transportie-
ren, aber weiter westlich soll das Treiben der Roten Garde noch ärger sein, oft bluti-
ge Zusammenstöße.
14. Mai Unsere eigenen Leute, Ungarn, der Roten Garde bewachen uns, man darf aus
dem Bretterzaun nicht hinaus, von Tag zu Tag Verschärfungen. Der gewesene Schuster
38 Kolt. = Koltschak  ? Alexander W. Koltschak rekrutierte im November 1918 als Kriegs- und Mari-
neminister der »Sibirischen Regierung« eine Armee, stürzte anschließend diese Regierung und
ernannte sich zum »Obersten Regenten Russlands«, als der er von der Entente anerkannt und
unterstĂĽtzt wurde. Er errichtete eine diktatorische Herrschaft und leitete mit materieller Hilfe
aus England und Frankreich zunächst erfolgreich den Kampf gegen die Rote Armee in Sibiri-
en bis April 1919. Später geriet Koltschak – laut Brändström »ein ehrenhafter Soldat« (  S. 224  )-
in die Hände der Bolschewisten und wurde 1920 hingerichtet.
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273