Page - 161 - in Rolf Geyling (1884-1952) - Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
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Die Jahre in Sibirien 161
ist unser Wachekommandant  ! – Dazu wird die Verpflegung immer knapper, man kann
nichts mehr privat kaufen; in einigen Monaten erwartet man völlige Hungersnot. Preise
unerschwinglich. – Alle trachten nur wegzukommen, oft Hoffnungsstrahlen auf Heim-
fahrt, die gleich wieder erlöschen.
In allen Lagern wurden von den gefangenen Soldaten Handwerksbetriebe, vor allem
Schuster- und Schneiderwerkstätten, eingerichtet, die zumeist mit primitivem, selbst her-
gestelltem Werkzeug die Kleidung der Mitgefangenen zu reparieren versuchten. Der von
Rolf genannte Schuster scheint in einer dieser Werkstätten tätig gewesen zu sein, bevor
er zum Wachekommandant avancierte.
Die RĂĽckfĂĽhrung der Gefangenen aus Sibirien erfolgte nicht nur aus logistischen
Gründen äußerst schleppend, sondern die Bolschewisten versuchten auch möglichst vie-
le Kriegsgefangene auf ihre Seite zu ziehen, um sie den eigenen Truppen zufĂĽhren zu
können und oder um ihr Fachwissen und ihre Arbeitskraft für die Nutzbarmachung von
Sibiriens Bodenschätzen zu gewinnen. Anfang 1918 begann daher eine intensive revo-
lutionäre Propaganda unter den Gefangenen. Die verzweifelte Lage und die Ungewiss-
heit über die Zukunft machten zwar viele für die umstürzlerischen Ideen empfänglich.
Die stärkste Triebfeder, um den Rotgardisten beizutreten, war jedoch, wie Elsa Bränd-
ström betont, die Aussicht auf die Verbesserung der persönlichen materiellen Lage. Aus
ideologischer Ăśberzeugung sollen sich deshalb die wenigsten dieser Bewegung ange-
schlossen haben, einzig unter den Ungarn und Serben sollen die Anwerbungsversuche
auf besonderes Interesse gestoĂźen sein.
Im Mai 1918 gelingt es Rolf endlich, von der Invaliden-Kommission fĂĽr den Gefange-
nenaustausch vorgeschlagen zu werden. Doch auch dieser Hoffnungsschimmer wan-
delte sich sehr rasch in eine herbe Enttäuschung.
24. Mai Invaliden-Kommission. Unter Bedeckung werden wir nach Tschita gefĂĽhrt. Alles
belohnt durch das Glück meiner Annahme. Zusammen 9 Offiziere von unserem Lager. –
6. Juni sollten wir abfahren; aber in letzten Tagen wieder vereitelt. Telegramm dass kei-
ne Transporte durchkönnen. Czechoslowakische Transporte, die über Wladiwostok an
die französische Front wollten, sollten durch die Rote Garde entwaffnet werden, aber es
kommt zu Kämpfen in mehreren Städten, die Czechoslovaken besetzen viele Stationen
etc. Man hält es schon für das Einsetzen der Gegenrevolution. Große Aufregung bei der
Roten Garde hier. Letzter Zeit werden alle Soldaten, unsere Diener etc. fast gezwungen
der Roten Garde oder einer Organisation beizutreten, sonst können sie gar nichts ver-
dienen. Man versprach ihnen, sie brauchten keine Waffen zu ergreifen, auĂźer um die
Revolution zu retten. Jetzt ist schon der Fall eingetreten und sie machen große Augen. –
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine KĂĽnstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- ArchitekturentwĂĽrfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Ăśbergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen fĂĽr uns 230
- Sehnsucht nach Ă–sterreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273