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Und noch einmal tauchten bei Rolf Erinnerungen an alte Bekannte auf: »Es ist so
schade, dass wir hier von allen alten Bekannten kaum mehr etwas wissen, und ein Heim-
weh nach ihnen kommt mich immer mehr an.« Es zeigt sich, dass er und seine Frau es
tatsächlich geschafft haben, sich all die Jahre von der Tientsiner Gesellschaft abzuschot-
ten, wie sie dies laut den Briefen von Hermine von Anfang an taten: »Hier haben wir,
trotz des langen Aufenthaltes kaum Bekannte die uns mehr fesseln als für den notdürf-
tigen Verkehr. Brülls die Einzigen, haben heute auch andere Interessen, denn sie gravitie-
ren nach Amerika, wo ihre [ Fr. Brülls
] Brüder schon lange sind, und haben wenig Gefühl
mehr für Österreich, das trotz Allem aber unsere Heimat bleibt.« Bittere Enttäuschung
empfindet er auch über das Verhalten der jüdischen Emigranten in der Stadt, von denen
viele nach der Reichskristallnacht im Jahr 1938 nach China geflüchtet waren. Die meisten
wollten allerdings nicht bleiben, sondern nach Palästina oder in die USA auswandern.
Seitens der Brülls hatte von Anfang an eine besondere Beziehung zu diesen Emigran-
ten bestanden, da Brülls Frau selbst jüdischer Abstammung war. »Er [ Brüll ] ist durch ein
schweres Leiden hinfällig geworden, und gravitiert heute natürlich ganz zu den Emig-
ranten, die uns hier, durch einen nichts zu stillenden Hass das Leben schwer zu machen
trachten. Zwar wurden die meisten von den Deutschen, und natürlich besonders von
Österreichern unterstützt und gefördert, selbst von manchem Pg. [ Parteigenosse, Mit-
glied der NSDAP
], um ihnen ihr Los zu erleichtern und sie etwas die furchtbaren Erfah-
rungen vergessen zu lassen. Während sie damals alle Förderungen hingenommen ha-
ben können sich Viele heute nicht genug tun die selben die ihnen geholfen haben zu
verschwärzen und zu verfolgen. Die Zustände hier sind äusserst unerfreulich, und die
ewige Ungewissheit aufreibend. Wir haben hier immer darunter gelitten dass Alles vom
kaufmännischen Geist dirigiert wurde, der uns so gar nicht liegt, und dann kam noch der
politische Geist hinein, der uns noch weniger liegt. So haben wir uns immer mehr vom
gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und leben heute recht abgeschlossen für uns.«
Am Ende des Briefes berichtet er auch kurz von seiner Frau, wobei auch in diesen we-
nigen Worten deutlich die geänderten Lebensumstände zutage treten: »Sie ist so tap-
fer, sie geht heute einkaufen und kocht selbst, was Alles früher für China unmöglich ge-
wesen wäre. Sie ist noch dünner geworden [ … ] aber überraschenderweise fühlt sie sich
wohler als früher, und ist trotz aller Aufregungen guter Dinge.«
Die selbstgewählte Isolation in der Tientsiner Gesellschaft hat bei Rolf und Her-
mine eine fast ausschließliche Konzentration auf die Familie bewirkt. Hermine beton-
te einmal, dass sie nur für die Kinder leben, und vor diesem Hintergrund hatte das
beabsichtigte Zusammenleben in dem gemeinsamen Haus, das Rolf in Tientsin er-
richtet hatte, sowohl für Hermine als auch für Rolf eine große Bedeutung. Aber nicht
nur diese erhoffte Lebensform blieb ein Traum, sondern die engen Familienbande
Rolf Geyling (1884-1952)
Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rolf Geyling (1884-1952)
- Subtitle
- Architekt zwischen Kriegen und Kontinenten
- Author
- Inge Scheidl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79585-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Architektur, Historismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Erster Weltkrieg, Ostfront, Kriegsgefangenschaft, Sibirien, China, Tianjin
- Category
- Biographien
Table of contents
- Revolte und Reife 8
- Eine Künstlerfamilie 9
- Zwischen Abenteuer und Architektur 15
- Mädy 35
- Mobilisierung und Krieg 41
- Der Weg an die Ostfront 41
- Die Schlacht von Lemberg 48
- »Durch Landesbewohner verraten« 59
- Die Sanoffensive 62
- Schlacht bei Krakau 65
- Kriegsalltag in der k. u. k. Armee 67
- Die »Angriffshast« der Infanterie 68
- Warten auf Befehle 70
- Bewegungskrieg in Nässe und Schlamm 74
- Schlacht bei Limanowa-Lapanow 78
- Die Schlacht von Tarnow-Gorlice 81
- Kriegsgefangenschaft 91
- Berichte zwischen Verklärung und Traumabewältigung 91
- »Kriegsordnung« und Kriegsgefangenenrealität 94
- Die Jahre in Sibirien 96
- Der Transport in die Lager 96
- Dauria 115
- Architekturentwürfe in der Gefangenschaft 139
- Zwischen den Fronten der »Weißen« und »Roten« Garde 149
- Antipicha – Perwaja-Rjetschka – Wladiwostok 159
- China 173
- Ankunft 173
- Dies ist ja eine Übergangszeit 182
- Aufträge und Rückschläge 189
- Das architektonische Werk 199
- Städtebauliche Planungen 203
- Öffentliche Gebäude und Geschäftsbauten 204
- Villen 214
- Miethäuser 221
- Gesellschaftliches Leben gibt es hier genug 224
- Wir leben recht abgeschlossen für uns 230
- Sehnsucht nach Österreich 238
- Ewige Ungewissheit 247
- Lao Gai Lin 257
- Epilog 265
- Literatur 269
- Bildnachweis 272
- Farbteil 273