Seite - 57 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Menschen“35 in die Gegenwart treten: „Der Krieg ist unser Vater, er hat uns
gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und
wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an.“36 Mit demonstrativer Emphase
begrüßen dagegen die Avantgarden die Modernisierungsprozesse und großstäd-
tischen Mentalitäten; neusachlich Unkompliziertes und Überwältigendes gelten
als Belege des Authentischen; die von Kurt Pinthus im Appell Die Überfülle
des Erlebens ausgemachten „Aufmerksamkeitsablenkungen“37 werden ideell zu
Musterprogrammen für Selbstfindung und Selbstbefreiung erhoben. Der Ar-
chitekt Hannes Meyer veröffentlicht 1926 den Essay Die neue Welt, in dem er
das „Diagramm der Gegenwart“38 zu entwerfen sucht, das „inmitten der krausen
Linien seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Kraftfelder“39 die „Geraden
mechanischer und wissenschaftlicher Herkunft“40 aufgehoben habe. Meyers Be-
standsaufnahme verweist deutlich auf die Simultanität des Disparaten:
Die Psychoanalyse sprengt das allzu enge Gebäude der Seele, und die Graphologie
legt das Wesen des Einzelwesens bloß. […] Die Tracht weicht der Mode, und die
äußerliche Vermännlichung der Frau zeigt die innere Gleichberechtigung der Ge-
schlechter. Biologie, Psychoanalyse, Relativitätstheorie und Entomologie werden
geistiges Gemeingut aller:
France, Einstein, Freud und Fabre sind die Heiligen der
letzten Tage. […] Sport eint den Einzelnen mit der Masse. Sport wird zur hohen
Schule des Kollektivgefühls.41
Verliert der Boxer Hans Breitensträter einen Kampf, gibt Meyer zu bedenken,
zeitige dies folgenreiche Manöver: „Hunderttausende macht die Niederlage
Breitensträters erzittern.“42 Boxen erlebt seine Blüte in einer Zeit von Konkur-
renzdenken und Kräftemessen43: Georg Lukács spricht 1919 in einem Vortrag
von der „Epoche der offen eingestandenen, nackten Gewaltanwendung“44. Der
kombattante Grundcharakter des Boxens bildet die „Polarisierungen der Gesell-
35 Jünger 2001, S. 184
36 Ebd., S. 185; in Der Kampf als inneres Erlebnis schmäht Jünger die Figur des Pazifisten, der „die
Boxkämpfe besucht“, vgl. Jünger 1980, S. 41
37 Pinthus 1965, S. 130
38 Meyer 1980, S. 27
39 Ebd.
40 Ebd.
41 Ebd., S. 28
42 Ebd.
43 Vgl. Mai 2001, S. 7–26
44 Lukács 1923, S. 259 57
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440