Seite - 61 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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wenige Menschen großer internationaler Klasse, wir hätten einen neuen Mann
neben Bode, neben den Einsteins, neben Richard Strauß“78. Unter dem Pseu-
donym Rumpelstilzchen fordert der Journalist Adolf Stein in der Berliner Tägli-
chen Rundschau, man müsse „Helden haben“79; man lechze nach dem „Blute im
Ring“80 und könne im Heute nicht ohne Helden leben. „Da sucht man sie halt
[…] im Boxring.“ 81 Das in Weltkrieg und Materialschlacht geopferte Wunsch-
bild gleichgeschalteter Bewegung von (militärischem) Körper und (chauvinisti-
schem) Geist findet im Boxen, jenem „Wirklichkeitsrausch, in dem das einzelne
Ich völlig versinkt“82, seinen letzten Widerhall; auf der Mentalitätslandkarte des
Boxens strömt Heterogenes zusammen und verleiht dem Weimarer Bewusst-
sein sein spezifisches Gepräge. „Wie ungeheuer“, staunt Kurt Pinthus, habe sich
„der Bewußtseinskreis jedes einzelnen“83 erweitert: „Zusammengeballt in zwei
Jahrzehnten erlebten wir mehr als zwei Jahrtausende vor uns.“84 Und welches
„Trommelfeuer von bisher ungeahnten Ungeheuerlichkeiten“85 auf die Nerven
niederprassle! Das Zeitalter der Zwischenkriegszeit weist keinen „geschlos-
senen Horizont“86 auf: „Es bildet vielmehr einen Mischraum“87, in dem sich
Kraftmenschenkult und Krisenstimmung, Tatendurst und Fatalismus finden.
Die „männlich-heroische Auseinandersetzung mit der harten Realität“88 ver-
mengt sich mit einem fatalistischen „Sich-Abfinden mit der ‚Entgötterung der
Welt‘“89. Zerspaltung und Zerrissenheit finden sich in der Existenz des Men-
schen abgebildet, der, unter Preisgabe jeder Form introspektiver Psychologie, als
„Bewegungsmaschine“90 wahrgenommen wird. Erich Maria Remarque bringt
die „übertriebene Bejahung der Kultur der Äußerlichkeit“91 in seinem Roman
Im Westen nichts Neues auf den Punkt: „So leben wir ein geschlossenes, hartes
Dasein äußerster Oberfläche, und nur manchmal wirft ein Ereignis Funken.“92
Die Vorstellungen vom innengeleiteten Subjekt werden misstrauisch gemustert
78 Flechtheim 1926, S. 49; Wilhelm von Bode (1845–1929), deutscher Kunsthistoriker
79 Zit. n. Behrendt 1990, S. 85
80 Zit. n. ebd.
81 Zit. n. ebd.
82 Kasack 1983, S. 260
83 Pinthus 1965, S. 130
84 Ebd., S. 131
85 Ebd., S. 130
86 Lethen 1994, S. 49
87 Ebd.
88 Lindner 1994, S. 125
89 Ebd.
90 Lethen 1994, S. 10
91 Ebd., S. 32
92 Remarque 2007, S. 184 61
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440