Seite - 68 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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bricht ein regelrechtes „Boxfieber“155 aus: Es grassiert das nach den jeweiligen
Boxakteuren benannte „Breitensträter- oder Prenzelfieber“156. Emil Faktor er-
hebt in Kräftespiel den Anspruch auf Sensationen:
Wir Menschen des Jahres 1924 fühlen uns durch die Erlebnisse des verflossenen
Jahrzehntes vielfach verbraucht und leisten Lockungen des Interesses Widerstand.
Wir wollen, wenn wir vom Alltag abbiegen, nur starken und stärksten Suggestio-
nen uns hingeben, die uns in der Stundenzahl, die wir opfern, über die Fatalität des
Daseins völlig hinaus heben. Wir suchen Selbstvergessenheit.157
Boxsportliche Zusammenhänge tauchen nahezu epidemisch in Literatur und
Journalismus auf: 1928 macht der Querschnitt für Max Schmelings Erfolge ein
„Knockout-Rezept“158 aus; der Komponist Kurt Weill schreibt 1927 eine euphori-
sierte Reportage über die Boxszene159; eine Berliner Sportfirma warnt vor Nach-
bildungen ihrer „Ohrenschützer zum Training“160; Schauspielerinnen posieren für
Pressefotos in Kampfpose161; Boxer besprechen Schallplatten, treten in Filmen auf
und machen Werbung162; die Deutsche Reichsbahn eröffnet selbstständige Boxab-
teilungen163; Zeitungen verschicken an ihre Abonnenten Unterrichtsbehelfe zum
schrittweisen Erlernen des Sports164: „Jedermann ein Boxer“165, so das Motto der
Aktion. Max Schmeling bettelt in einer gereimten Geburtstagsnote für den Ak-
teur und Regisseur Fritz Kortner geradezu darum, als ein Mann von grundseriöser
Erscheinung wahrgenommen zu werden: „Und es macht mich oft traurig, dass
ich manches verstehe, aber als / Boxer nicht verstehen soll und darf. Schade.“166
Der Berliner Autor Heinrich Hauser schwärmt 1931 während des Besuchs einer
Autofabrik im Norden der USA: „Die Arbeiter laufen bei der Arbeit mit, oft rück-
wärts gewandt. Es entsteht daraus ein fast sportlicher Eindruck, so etwas wie von
der ‚Beinarbeit‘ eines Boxers.“167 Kortner, dem Schmeling gereimte Geburtstags-
155 Behrendt 1990, S. 85
156 Pawlowski 1990, S. 102; vgl. Marcus 2013, S. 144
157 Faktor 1994, S. 228
158 Meisl 1928a, S. 122
159 Vgl. Weill 1990, S. 255
160 Zit. n. Berg 1995, S. 138
161 Vgl. Rase 2003, S. 121
162 Vgl. Repplinger 2008, S. 78; Schmeling 1956, S. 26
163 Vgl. Sigleur 1940, S. 118
164 Vgl. N. N. 1927, S. 1; N. N. o. J., S. 19
165 N. N. 1927, S. 1
166 Schmeling 1928, S. 70
167 Hauser 1931, S. 231
68 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440