Seite - 70 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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„Männliche Literatur“173 fordert Kurt Pinthus zwei Jahre darauf in seinem
gleichnamigen Essay. Im Bild des Boxers sieht Pinthus die neusachliche
Schreibweise verwirklicht: „Eher läßt sich diese Sprache: ohne lyrisches Fett,
ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers
vergleichen.“174 Yvan Goll fordert 1926 in der Literarischen Welt die Dichter
dazu auf, die Formen ihres Schreibens an die Epoche anzupassen: „Es ist ge-
radezu ein Nonsens, von einem Menschen mit heutigen Nerven zu verlangen,
daß er von regelrecht skandierten und gereimten Versen, die breit und behäbig
und schwer hinflieĂźen, irgendeine tiefere Wirkung, ein inneres Beben, ein Stau-
nen verspüre!“175 Boxen liefert Goll entsprechendes Quellenmaterial, um seinen
Forderungen nach neusachlicher Ästhetik buchstäblich Nachdruck zu verlei-
hen: „Weg mit allem Pathos, aller Rhetorik, allem Singsang und Liralei: dafür
ein direkter Uppercut auf die linke Schläfe des Lesers oder ein blitzschneller
Schlag in die Herzgegend. Rapides Bild. Ăśberzeugender Ausdruck. Und langes
Nachklingen der berührten Seele.“176 Boxen bricht in die traditionellen Bahnen
der Poesie: Der Sport erzeugt Bilder von Rasanz und Dringlichkeit, hinterlässt
augenfällige Blessuren; Boxergesichter sind nach dem Schlussgong häufig zer-
schrammt und geschwollen – spekulativ bleibt das Nachklingen der Schläge
in der Seele: In Frank Thiess’ 1924 erschienenen – und in der Sonderausgabe
von 1933 mit einem von antisemitischen Implikationen getragenen Vorwort177
versehenen – Jugendroman Der Leibhaftige, in dem auch Boxen eine Rolle spielt,
erklärt der Manager Leverkusen einem Arzt als Ringbesucher schwärmerisch,
was Boxen ausmache. „Donnerwetter“, staunt der Mediziner, „ich dachte nie,
daß Boxen so ’ne knifflige Sache ist. Das will ja durchdacht sein wie ’ne Ope-
ration.“ 178 Leverkusen entgegnet prahlerisch, Boxen sei der „Sport der neuen
Zeit: scharfes Auge, Zehntelsekundenberechnung, geölte Weichenstellung,
Übertragung der technischen Maschinerie auf den Menschen“ 179. Die Figur
des Boxers gilt nicht nur hier als der „große Mann eines Volkes“180, zumal in ei-
ner Zeit, „deren Helden […] Preisboxer“181 sind; der Boxer wird zum „Inbegriff
des modernen Mannes“182 fetischisiert und zum „Typus siegreicher Moderni-
173 Pinthus 1983, S. 328
174 Ebd.
175 Goll 1983a, S. 439
176 Ebd., S. 440
177 Vgl. Thiess 1933, S. 9–15
178 Ebd., S. 215f
179 Ebd., S. 216
180 Heidegger 1983, S. 41
181 Mann 1984, S. 239
182 Berg 1993, S. 6
70 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440