Seite - 92 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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ist, daß Tunney der Schlag trifft.“391 Das Ende eines Boxkampfs, kommentiert
Roland Barthes passend in Die Welt, in der man catcht aus einiger zeitlicher Di-
stanz, sei „trocken wie der Schlusspunkt eines Beweises.“392 Als ob es Ambi-
valenz und Gegensätzlichkeit nicht gäbe, erstarrt das Bild vom Boxer zum pa-
thetisch agierenden Poseur eines subversiv-schablonenhaften Heldentums. Der
Krise des analytischen Geistes hält Boxen radikale Vereinfachung und heroische
Klischees entgegen. Die Figur des Boxers erweist sich als Vexierbild: Der Boxer
tritt auf als ein personifiziertes Phänomen unklarer Grenzziehungen zwischen
Radikalindividualismus und Kollektivismus, Zirkusreife und Professionalismus,
Modernität und Gegenmodernität, Technisierung und Naturalisierung, Sche-
matismus und Impulsivität; als Kultfigur und Antibourgeois, Einzelgänger und
Mitläufer, Idealtypus und Ikone des Rebellischen. Im Phantombild des Boxers
scheint nicht zuletzt der Weimarer Widerspruch von demokratischen und an-
tidemokratischen Prinzipien zusammenzugehen. Einerseits Regelbefolgung,
Souveränität, Akzeptanz der Schiedsrichter-Instanz, Unterordnung unter das
Trainingsprogramm; andererseits Macht-, Kraft-, Regierungsansprüche; Re-
gellosigkeit. Der repetitive Charakter des Trainings und die wettkampfmäßige
Erprobung der eingeschliffenen Verhaltensweisen wiederum sollen den Körper
des Boxers zu einem Werkzeug des Willens formen; durch Training wappnen
sich Boxer; sie versuchen, den Einbruch von Kontingenz in den Kampf abzu-
wenden. Im Ring sehen sich die Athleten dann aber mit Situationen fern jeder
Planbarkeit konfrontiert. Die Sportler versuchen qua Disziplinierungstechnik
die Situation nach dem Gongschlag zu beherrschen: Erst die „Erwartungshal-
tung in Hinblick auf einen unsicheren Ausgang“393 lässt Boxen zu einem der
„faszinierendsten Zuschauersports der industriellen Epoche“394 werden. Der
zeitgenössische Prominentenkult um die Boxer lenkt deshalb auch nur davon
ab, dass die Sportler durchweg Wanderer sind zwischen bürgerlicher Werte-
welt und Ganovenmilieu, Boxschauspielerei und Sportprofessionalismus – „An-
rüchigem und Verbotenem“395 entkommen Boxer von Berufs wegen nicht. Die
Wandlungsfähigkeit des Boxers macht es schwer, ihn als Typus eindeutig zu
fixieren. Er tritt als halbnackter Erotiker und Exzentriker regulierter Gewalt
auf; als Ästhet der Brutalität und Faustschläger mit reduzierter psychologischer
Triebausstattung; als Mann der Halbwelt und Auskundschafter vitaler Grenz-
bereiche, der die Konfrontation mit dem Tod nicht scheut; als ein Apologet der
391 Bronnen 1928, S. 141
392 Barthes 1986b, S. 45
393 Eichberg 1978, S. 86
394 Ebd.
395 Fleig 2008, S. 115
92 | Teil
I.
Zeitzeichen
Boxen
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440