Seite - 114 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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große Zahl literarischer Quellen vom Beginn des 20. Jahrhunderts ist sichtba-
rer Beleg einer dichten reflexiven und alltagsgeschichtlichen Durchdringung mit
den Werten, Begriffen und Diskursen aus der Welt des Boxens, diesem nach
außen hin offenen Diskursraum ritualisierten Raufens mit gepolsterter Faust, vor
Krachkulisse und Massenpublikum, im gleißenden Licht der Ringscheinwerfer.
Auf den Bühnen tummeln sich schon kurz nach der Jahrhundertwende Kraft-
kerle, die vom Boxen als einem symptomatischem, mit Signalcharakter ausstaf-
fiertem Oberflächen- und Modephänomen der anbrechenden Moderne künden:
Frank Wedekind lässt 1908 in dem Stück Oaha einen tugendhaften Verlagsbuch-
händler das Faustfechten üben, wobei beinahe ein Nasenbein bricht; Ernst Toller
verstrickt sein dramatisches Personal in Hoppla, wir leben in eine Diskussion,
ob eine Boxveranstaltung besucht werden soll.4 Carl von Ossietzky lässt eine
seiner Theaterkritiken in der Berliner Volks-Zeitung in der trockenen Feststel-
lung kulminieren, dass jene Bühnenaktion, die am meisten physische Qualität
bewiesen habe, mit beharrlichem Beifall bedacht worden sei: „Wir sind nicht
umsonst Zeitgenossen Breitensträters.“5 In Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein
Else verfällt Else in zwiespältige Schwärmerei: „Der einäugige Amerikaner […]
hat ausgesehen wie ein Boxkämpfer. Vielleicht hat ihn beim Boxen wer das Aug’
ausgeschlagen.“6 Hugo Bettauer nähert sich der jüngeren Historie 1922 im Ro-
man Der Kampf um Wien satirisch mit den Mitteln des Boxens: „Hat nicht ganz
Amerika durch einige Tage den Weltkrieg über den Kampf um die Weltmeister-
schaft im Boxen vergessen gehabt?“7 In Romanen, Reportagen und Erzählungen
findet sich Boxen bald in variierenden Schreibweisen ausgestellt; vier vornehm-
liche Erscheinungsformen des literarisierten Boxens sind dabei auszumachen.
Weitestgehend unhinterfragte Vorstellungen vom Boxen als schmückend-mo-
disches Beiwerk finden sich als verstreute Spur. Boxen hält als extravagantes
Phänomen in regionale Zeit- und Inflationsromane – wie in Felicitas Roses Die
jungen Eulenrieds und Paul Kellers Drei Brüder suchen das Glück – Einzug, auch
wenn der Breslauer Autor Keller das Boxen als Aktivität ausstellt, die jeder Stra-
ßenprügelei zur Ehre gereichte8; die Erwähnung von Boxernamen und Ringge-
plänkeln gehört in Tagebüchern und Erinnerungen an die Zeit zum guten Ton.
Der Berliner Schriftsteller und Satiriker Alexander Moszkowski bemerkt 1925,
dass jedes Kind die „Helden vom Knockout“9 kenne. Harry Graf Kessler notiert
4 Vgl. Wedekind 2003, S. 44; Toller 1980, S. 47
5 Ossietzky 1994, S. 543
6 Schnitzler 1980, S. 209
7 Bettauer 1980, S. 350
8 Vgl. Rose 1936, S. 142ff; Keller 1929, S. 93f
9 Moszkowski 1925, S. 223
114 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440