Seite - 165 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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scharfes Dreistundentraining von sieben bis zehn Uhr abends und dann ins Bett
– ha, da wolle er einmal sehen, ob er dann nicht schlafen werde wie ein gesunder
Toter.30
In Die Wandlung der Susanne Dasseldorf wiederum sieht sich der Boxsport anno
1918 noch mit massiven Ressentiments und dem Vorwurf der Rückständigkeit
konfrontiert. Susanne und ihr Bruder Louis zeigen Dr. Fischer, einem Chemiker
und Geschäftsmann, mit dem die Familie Dasseldorf die Herstellung von Wa-
schpulver plant31, die Stadt. Sie
waren im Begriff, heimzukehren, als sie auf dem Clemensplatz einen lärmvollen
Menschenauflauf bemerkten. „Da veranstalten diese Kerle ihre Boxerei“, sagte
Louis voll Verachtung und wollte weitergehen.
Das Wort „Boxerei“ elektrisierte Susanne. Sie erklärte sofort, sie wolle sich das an-
sehen und ging trotz Louis’ Einwänden, „sie werde sich doch nicht dahin stelllen“,
auf die Mitte des Platzes zu, wo sich die Menschen, hauptsächlich Soldaten und
Offiziere der Besatzung, um eine nach allen Seiten freie Estrade drängten, auf der
gerade ein Kampf stattfand.
Louis und Herr Fischer folgten ihr wohl oder übel. Aber als Susanne sich mitten
zwischen die Zuschauer drängen wollte, packte Louis sie am Arm. „Das ist doch
alles Besatzung“, zischelte er wütend und hielt sie fest. Susanne ließ sich nicht
beirren, sie starrte auf den Ring.32
Boxen erscheint 1918, der erzählten Zeit des Romans, als ein nahezu unbekann-
tes Phänomen, das ambivalente Reaktionen hervorruft; es bricht mit herrschen-
den bürgerlichen Moralvorstellungen und eröffnet neue diskursive Spielräume,
die sich in dem Roman in der Faszination für die Zurschaustellung des Kämp-
fens und in dem Reizsignal betonter Körperlichkeit zeigen:
Obwohl diese Veranstaltung sie nicht mehr fesselte, blieb Susanne stehen. Es war
das erstemal, daß sie einen richtigen Boxkampf sah. Die Brutalität der Schläge,
die da oben ausgetauscht wurden, entsetzte sie und gefiel ihr gleichzeitig. „Da ge-
hört schon Schneid zu“, bemerkte sie zu Fischer. „Stumpfsinn und Sturheit, sonst
nichts“, versetzte Louis. Louis war äußerst verstimmt.33
30 Ebd., S. 183
31 Vgl. Breitbach 2006, S. 419ff
32 Ebd., S. 421
33 Ebd. 165
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440