Seite - 187 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 187 -
Text der Seite - 187 -
Breitensträter nimmt keine Gegner, sondern Rhetorik und Sprache in die Man-
gel. Roth bleibt das Dokumentieren des boxkampfähnlichen Zusammenspiels
von Sport, Sprache und Aberwitz:
Er spricht mit der echten Verachtung des Muskelmenschen für den eigenen Vor-
trag. Er liest aus einem Manuskript. Lange Perioden zerhackt er mit akustischen
knock-outs in kurze Sätze. Manchmal trifft ein Bauchstoß ein Prädikat. Es fliegt
weit fort und findet sich erst nach einer langen Pause wieder. Es ist, als wäre es
am Boden gelegen und bis „acht“ wenigstens ausgezählt worden. Bemerkens-
wert sind charakteristische Ausdrücke und Ausdrucksformen. Breitensträter sagt
„Enertschie“, also durch Konsonantenhäufung die einfache Energie potenzierend.
Manchmal erzählt er im praesens historicum: „Ich habe eine Gehirnerschütterung
und werde ausgezählt“; oder „ein Schlag zertrümmert ihm das Nasenbein“. Dann
folgt ein Geständnis und ein Hymnus auf Blut. Der Meister erzählt, daß die
Nacktheit des Gegners und der Anblick feindlichen Bluts den Kämpfer in einen
prachtvollen Taumel geraten lassen. Hierauf erfährt man, daß „kalte Abreibungen
den Geist stählen“. Der getragenen Weise des ganzen Abends folgend, sagt Brei-
tensträter: „Wenn ich in Berlin weile, mache ich Laufübungen durch den Tiergar-
ten“ und „bald darauf geht es in die Klappe“. Gelegentlich kommt noch ein Aperçu
(nicht mit „upper-cut“ zu verwechseln) und dieses lautet: „Manche Ballettratte ist
gegen uns ein Waisenkind“ […] Somit ist der theoretische Teil dieses Abends
beendigt, Breitensträter legt seinen Smoking ab und setzt an einem entkleideten
Partner im Boxerdreß praktisch fort, was er an der Syntax begonnen.163
Roth bringt es freilich auch fertig, mittels veränderter erzählerischer Perspektive
die boxsportliche Verblendung eines frenetischen Publikums zu enthüllen, das
einzig Sportleistung einfordert – und keinesfalls irgendwie geartete Kulturhand-
lungen. Jack Dempsey ist in Der Meister im Museum auf Kurzbesuch in Berlin.164
Welches sportliche Hochamt er dabei zelebrieren wird? „Den Journalisten teilte
ein Sekretar mit, daß Dempsey drei Tage in Berlin bleibt, um die Museen zu
besichtigen“165, unterläuft Roth wie stets jede Erwartungshaltung: „Und dieses
war die größte Enttäuschung des Tages. Was? Museen wollte er besichtigen?
Museen?“166 Was zählt, ist das Sprechen in sportlichen Superlativen:
163 Ebd., S. 56 (Hervorh. im Orig.)
164 Vgl. Roth 1989d, S. 805f
165 Roth 1989d, S. 806
166 Ebd. 187
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440