Seite - 189 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Die Figur des Boxers steht im neuralgischen Zentrum eines inhaltsleer gewor-
denen Reiz-Reaktion-Prozesses – Boxen als das Zeitzeichen schlechthin ver-
kümmert unter Bleis Zugriff ein für alle Mal zu einem schalen Ausdruck von
Posertum und Attitüde. Nach all der Zeit synthetischer Heroisierung (und den
Myriaden an Zeitungsberichten und Boxsportbetrachtungen) scheint dem Au-
tor der ideale Moment für eine Bilanz gekommen: Blei zwingt das Boxen mit
spöttisch-kritischer Geisteshaltung und Gelassenheit (die antiken Griechen
wussten noch um die Veranlagung der Sportler!) in die Sackgasse der Bedeu-
tungslosigkeit.
Die von Krenek, Kuh, Roth und eben Blei literarisierten Boxer sind als
sprachlose, marionettenhafte Krakeeler konzipiert, umgeben und umtost von
aufgewiegelten Publikumsmassen, die ihr stark simplifiziertes Boxerbild zu ab-
soluter Eindeutigkeit zu bringen suchen. Der Boxer, bemerkt Hanns-Marcus
Müller, sei dann schon Boxer, „wenn er nur bis zehn zählen kann und in seinem
Leben mehr Zähne verloren hat als grammatikkonforme Worte, ist dann Phi-
losoph, schon weil er boxt“171. Die genannten Autoren präzisieren dieses Boxer-
bild. Sport sei, konzediert Ödön von Horváth in seinem späten Essay Was soll
ein Schriftsteller heutzutage schreiben?, zwar ein „Fundament zur Entwicklung der
Individualität“172 – aber es handle sich, so Horváth kategorisch, um „eine völlig
ungeistige Individualität“173.
Die Desillusionierung des Boxens als eines Symbolbereichs der Moderne, auf
dem die Sportler als neue, tatkräftige Menschen erscheinen, mündet am Ende in
Akte fortschreitender Brutalität; für die TV-Ära im 20. Jahrhundert, vermerkt
der deutsche Autor Fritz Tietz dazu analog, verliefen Boxkämpfe übertrieben
„fleischwundig“174. Wie weit sich die ironisch-distanzierte Schreibweise aus
dem Boxen indes eliminieren lässt, verdeutlicht Victor Hugo in seinem Ro-
man Die lachende Maske, in dem Ringszenen mit Brutalitätsexzessen nahtlos
konvergieren; einem Boxer werden hier eine „Rippe eingedrückt und beide Au-
gen ausgeschlagen“175; in Jack Londons Erzählung Der Mexikaner Felipe Rivera
findet im Ring ein „Blutbad“176 statt, bei dem sich die Gegner gleichsam mit
„Haut und Haaren“177 fressen. Mit ironischen Attribuierungen und einer gegen
den Strich gebürsteten Verwendung von Wortfeldern, die für gewöhnlich das
Faustkämpfen bebildern, stellt dagegen der avancierte Weimarer Erzählkanon
171 Müller 2004, S. 47
172 Horváth 1988a, S. 867
173 Ebd.
174 Tietz 2005, S. 95
175 Hugo 1962, S. 176
176 London 1960, S. 32
177 Ebd. 189
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440