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zu zerbrechen drohen.208 Boxen wird deshalb als ein Relais geschaltet, das die
Diskrepanz zwischen Innerem und Äußerem der problematisch gewordenen
Ich-Identitäten abbilden und in letzter Konsequenz einen soll. „Ob Rhythmus,
ob Droge, ob das moderne autogene Training“, fordert Gottfried Benn noch
1943 im Essay Provoziertes Leben, „es ist das uralte Menschheitsverlangen nach
Überwindung unerträglich gewordener Spannungen, solcher zwischen Außen
und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit –
und die alte und neue Menschheitserfahrung, über diese Überwindung zu ver-
fügen“209.
Boxern wird ein Übermaß an Effizienz und Energie, Entfaltungsmöglichkeit
und Enthemmungspotenzial konzediert. Der Tendenz, Boxsport und Boxper-
sonal ein Maximum an symbolischer und allegorischer Bedeutung zuzuordnen,
tritt die elaboriertere Literatur in dem Versuch, die Vorstellungen vom Boxen als
Lebenskampf sowie Trainings- und Maschinenglorifizierung zu perpetuieren,
radikal entgegen. „Als ich allein durch die Straßen trieb wie ein Blatt im Herbst-
wind, wehte es mich in eine Ecke vor eine Plakatwand“210, lässt Klabund in Der
Boxer einen Flaneur die Ankündigung für einen Großkampftag völlig unerwar-
tet entdecken. Boxen als ein von Moden und Medien diktiertes Phänomen wird
hier wieder den Zufälligkeiten und Wechselfällen des Lebens untergeordnet;
Boxen als ein weiteres Kuriosum im Weimarer Sprühregen an Zerstreuung und
Unterhaltung wird auf Werbewänden nur mehr akzidentell ausgemacht: „Der
Entscheidungskampf um die Weltmeisterschaft, um die Weltherrschaft“211, ver-
kündet die Affiche so reißerisch wie wirkungslos. „Versäume niemand, der welt-
geschichtlichen Entscheidung beizuwohnen.“212 Der Traum vom Boxen scheint
auch in Alfred Polgars Miniatur Der Eremit ausgeträumt. Ein Ich-Erzähler be-
sucht darin einen Einsiedler, um diesen mit der Frage zu konfrontieren, wie
man glücklich werde.213 Die Antwort überrascht den Suchenden: „Der Greis
lächelte. ,Oh, mein Sohn, das ist das einfachste von der Welt.‘“214
Wünschest du, ewig zu leben? Nein. Wünschest du dir, Weltmeister im Boxen zu
sein oder Filmdiva oder Feldherr? Du wünschest dir das nicht, weil kein vernünf-
tiges Wesen Wünsche hegt, die es als unerfüllbar erkennt. Es handelt sich also nur
darum, einzusehen, daß du nicht glücklich werden kannst, damit du auch aufhörst,
208 Vgl. Lindner 1994, S. 9f
209 Benn 1968, S. S. 901f
210 Klabund 1922, S. 127
211 Ebd.
212 Ebd.
213 Vgl. Polar 2004a, S. 146f
214 Vgl. ebd., S. 147 195
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440