Seite - 196 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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glücklich sein zu wollen. Ziele als unerreichbar erkennen und sich Mühsal der
Wege zu ihnen ersparen: das ist aller praktischen Weisheit A und O.215
Boxen berührt in weitestem Sinne die Aporien zeitgenössischer Lebensmodelle,
indem der Sport vorgibt, durch Trainingsfleiß und Selbstdisziplin die Komple-
xität und Kontingenz des Daseins kontrollieren und organisieren zu können.
Die Texte der forcierten Literatur tendieren jedoch in diesem Fall zu Nivel-
lierung und Negation. Die trivialidealistische, von der Hoffnung auf Verbes-
serung des Lebensglücks getragene Vorstellung vom Boxen wird der Entglo-
rifizierung und der nüchternen Bestandsaufnahme unterzogen. Boxen verliert
als Imperativ an Bedeutung, der im Dasein des einzelnen Individuums – wie
in der Trivialliteratur – deutliche Spuren hinterlässt. „Oder die Talentsucher
kommen durch ein Dorf und haben im Wirtshaus Gelegenheit, einer netten
harmlosen Prügelei zwischen Holzfällern beizuwohnen“216, lässt Erich Kästner
in Boxer unter sich die angehende Boxkarriere eines Jungen marginal und zufällig
erscheinen. „Und da sehen sie, wie ein junger Bursche dem Gegner die Zähne
vierteldutzendweise aus dem Mund schlägt.“217 Der Lebensweg des rekrutierten
Boxers ist dann nur mehr Ergebnis schneller narrativer Schnittfolgen: „Eilends
wird der gutmütige Junge in ein Auto gepackt; und ein Jahr später fährt er im
Luxusdampfer nach Amerika, um gegen die kitzligsten Schwergewichtler zu
boxen.“218 Nach einem Handgemenge unter Kolportagejungen, das in einen
„regelrechten Boxkampf“219 ausartet, wird Joseph in Klabunds Der Boxer von
einem Talentsucher angesprochen – einem eleganten Herrn mit „Zylinder und
weißen Handschuhen“220, der vom Autor akkurat entworfenen Karikatur eines
Talentsuchers. Dieser zückt, einem überdrehten Zauberer gleich, seinen Hut,
begleitet von der Frage: „Haben Sie Lust, Boxer zu werden? Ich lasse sie [sic]
ausbilden.“221 Die Antwort des Jungen folgt ohne Spurenelement von Schick-
salsschwere: „Ich ließ meine Zeitungen am Boden liegen, sagte ‚All right‘ und
ging mit ihm.“222 Als Boxer fordert Joseph dann die Konkurrenz in Gestalt
von „Breitensträtter und Naujocks“223. Josephs boxerische Courage verballhornt
215 Vgl. ebd.
216 Kästner 1998a, S. 167
217 Ebd., S. 167f
218 Ebd., S. 168
219 Klabund 1998, S. 299
220 Ebd.
221 Ebd.
222 Ebd.
223 Ebd.
196 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440