Seite - 219 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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lienvater, der bescheidenste Jüngling, die Seelen und Muskeln der ganzen Menge,
die sich morgen früh auf die Kontore, Läden, Betriebe verteilen würde – dass wir
ein und dieselbe Empfindung verspürten, derentwegen es sich gelohnt hatte, zwei
hervorragende Boxer zusammenzubringen, das Gefühl einer sicheren, sprühenden
Kraft, Lebendigkeit, Tapferkeit, hervorgerufen durch das Spiel der Boxer. Und die-
ses spielerische Gefühl ist vermutlich wichtiger und reiner als viele der so genann-
ten erhabenen Genüsse.385
Mit demselben Enthusiasmus widmet sich die Zuschauermasse in Joseph Roths
Der Boxer den Geschehnissen im Kampfquadrat: „Brünstige Operngucker re-
cken sich lüstern. Ein molliges Kichern kollert durch den Saal.“386 In den Rän-
gen entfaltet Roth in Der Kampf um die Meisterschaft ein Panorama der deut-
schen Krisengesellschaft:
Greise krochen humpelnd aus dem Dämmer ihres Lebensabends in die strahlende
Helle des Kampfabends. Kinder führten ihre Mütter an den Schürzen zum Sport-
palast und schrien Hurra. Das Volk benahm sich spartanisch und drängte sich nach
antiken Mustern im großen Hof und in der Straße vor dem Palast. Klassische Rufe
wie: „Ick hau Dir eene!“ erfüllten die Luft, in der alle guten Olympiadengeister
schwebten. […] Während der ärmere Teil der Nation zu den heiligen Kämpfen
wandern mußte, benutzte der wohlhabendere eigene Automobile und Autodrosch-
ken, und es entwickelte sich vor dem Sportpalast ein Kampf der Wagen, wenn auch
nicht der Gesänge.387
Egon Erwin Kisch registriert 1925 das Stimmengewirr während eines Faust-
duells in Boxkampf im Radio aus der Distanz; auch wenn das Feuilleton vorgibt,
dass der Reporter am Ring weilt, wird bald klar, dass Kisch hier fiktionalisierte
Rede und Gegenrede in einen Dialog treten lässt, im dem sich die montierten
Passagen wechselseitig kommentieren. Kisch lässt etwa einen „Stentor der Ga-
lerie“388 auftreten, einen trojanischen Kämpfer mit enormem Stimmvermögen:
„Rauchen einstellen!“ 389, brüllt dieser – von einem „Stentor des Innenraums“390
folgt darauf die Replik: „Du hast wohl keene Zigarette?“391 Der „Chorus ec-
385 Ebd.
386 Roth 1989a, S. 144
387 Roth 1990d, S. 72
388 Kisch 1993a, S. 460
389 Ebd.
390 Ebd.
391 Ebd. 219
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440