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beiden Boxer keine voll ausgestattete Psychologie besitzen, sind ihre Reflexio-
nen und Handlungen motiviert – und damit berechenbar und nachvollziehbar.
Magenschwinger-links sucht „voll ehrlicher Verzweiflung“501 einen erfahrenen
Kampfrichter auf, mit der drängenden Frage, ob er oder sein Bruder denn mehr
Durchschlagskraft besitze502: „Oh Gott, was soll ich nur tun?! mein Bruder der
Magenschwinger-rechts wurde meineidig! beschwört, er besäße härtere Schlag-
kraft wie ich!“503 Die Klage des Magenschwinger-links konterkariert sich so-
gleich von selbst: Die im Kern nicht delegierbare Tätigkeit des Boxens wird den
Sphären des Justiziablen und Theoretischen überantwortet. Horváth zählt zu
jenen „jungen Schriftstellern und Künstlern, die den Stellenwert des Massen-
sports richtig ein[zu]schätzten“504 wussten. Den Spezialdiskurs Sport versteht
der Autor mit anderen Diskursen zu montieren: In Die beiden Magenschwinger
stattet Horváth einen der boxenden Brüder auch maliziös mit einem „Vierun-
zenhandschuh“505 aus: Das Bedrohungspotenzial, das von einem Faustsportler
ausgeht, der mit einer zu diesem Zeitpunkt bereits verpönten – weil nahezu
ohne Polsterung und deshalb zu verletzungsgefährlichen – Boxhandschuhgröße
zum Duell antritt, dürfte sich in Grenzen halten.506 Die Horváth-Vertraute
Wera Liessem notiert über die differenzierte Begeisterung des Autors für das
Boxen, diesen „herrlichen Sport, den er wahnsinnig komisch fand“507:
Er liebte dabei die Volksseele zu beobachten. Das sinnlose Geschrei, die fanatisierte
Massenseele belustigte ihn, weil er diese vollkommene Auflösung des Menschen
in eine johlende, nur noch kreatürliche Ekstase bezeichnend für die Endsituation
jeder Individualität hielt.508
Den sportlichen Fanatismus stellt Horváth auch in Die beiden Magenschwin-
ger als maßgebliche Signatur der Weimarer Epoche infrage. Der von Magen-
schwinger-links konsultierte Kampfrichter, der „sicherlich die Summe von über
501 Horváth 1988e, S. 46
502 Vgl. ebd.
503 Ebd.
504 Ott, Tworek 2006, S. 65
505 Horváth 1988e, S. 46
506 Fritz Rolauf berichtet in K.O., dass sich der Vier-Unzen-Handschuh um 1919 bei den Be-
rufsboxern „verhängnisvoll“ (Rolauf 1937, S. 41) ausgewirkt habe; Ludwig Haymann spricht in
Deutscher Faustkampf nicht pricefight noch 1936 von der „Vier-Unzen-Wirtschaft“ (Haymann
o. J., S. 10); Willy Meisl dokumentiert in Boxen, dass spätestens 1925 bereits der gepolsterte
Acht-Unzen-Handschuh in Verwendung sei, vgl. Meisl 1925, S. 18
507 Liessem 1970, S. 82
508 Ebd.
234 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440