Seite - 239 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 239 -
Text der Seite - 239 -
auch Maskierung und Teil einer Inszenierung – auf eine „Formel verkürzt“14
lässt sich dessen Verhältnis zum Boxsport nicht darstellen. Kai Marcel Sicks
hat die Dimensionen von Brechts künstlerischer Selbstverortung durch Boxen
detailliert beleuchtet. Als Enthusiast, der sich der ikonografischen Bedeutung
eines Objekts, wie es etwa der Punchingball darstellt, mehr als bewusst ist, po-
sitioniert sich Brecht im Einflussbereich jenes boxsportlichen Distrikts, der mit
„Progressivität“15, „Nüchternheit, Männlichkeit, Vitalität“16 assoziiert wird: Bo-
xen erscheint in den Schriften des Autors keineswegs als metaphorische Chiffre,
eher als formelhafte Handlungsanleitung, als Ansatzpunkt, von dem aus der
Autor „gegen bestimmte ästhetische Positionen und Verfahren“17 anschreibt.
Sicks nimmt Brechts Affinität zum Faustkampf historisch in den Blick. Der
Schriftsteller, so Sicks, knüpfe in seiner Selbststilisierung als einsiedlerischer
Poet und Dramatiker an jenen ästhetischen Diskurs an, der im Geniekult des 18.
Jahrhunderts wurzle und im Bild vom „boxenden Dichter“18 eine für die 1920er-
Jahre „prägnante Aktualisierung“19 gefunden habe. Jan Knopf dagegen führt
Brechts Boxsportbegeisterung biografisch auf dessen Sportlerbekanntschaften
zurück20, und für Roland Jost ist die Sportaffinität des Künstlers eine Folge von
dessen „Marxismus-Aneignung“21, die in der „Desillusionierung und Negierung
des bürgerlichen Individuums ihren Ausgangspunkt“22 habe.
Die angeführten Sichtweisen implizieren eine Form der Eindeutigkeit, die
sich bei unvoreingenommener Lektüre jedoch nur schwer nachvollziehen lässt;
Deutlichkeitspostulate lassen sich nur mit Einschränkungen auf Brechts Box-
sportschriften mit ihren weitläufigen diskursiven Verschaltungen anwenden, die
– dies vor allem – neue Perspektiven auf den Sport entwickeln. Wie leicht es
dem Autor indes fällt, im Schreiben über Boxen grundverschiedene Bildfelder
zu verschränken – die Logik des Extrems etwa mit Tendenzen des Ironischen
–, zeigen einleitend und beispielhaft die um 1922 entstandenen Gesänge vom
V R. Als probates Mittel zu Entspannung und Gefasstheit empfiehlt Brecht
darin dem Zigarrenraucher das „Venenbad des Boxkampfes“23. Boxen soll in der
chronischen Extremsituation von Wirtschaftskrise und individueller Notlage
14 Extra 2006, S. 194
15 Sicks 2004, S. 390
16 Ebd., S. 391
17 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
18 Sicks 2004, S. 391
19 Ebd.
20 Vgl. Knopf 1996b, S. 497
21 Jost 1979, S. 64
22 Ebd.
23 Brecht 1993g, S. 268 239
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440