Seite - 241 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Bei Brecht überschneiden sich im Boxen die Achsen von Alltagskultur, Sozia-
lem und Ökonomischem – die übersichtliche Geometrie des Boxens mit seiner
klaren Symbolik der Ereignisse und Ergebnisse löst sich zunehmend von seinem
sportlichen Kontext und wird zur „Deskription lebensweltlicher Zusammenhän-
ge“28 eingesetzt. Mit anderen Worten: Brechts Darstellung des Boxens erfasst
mehr, als die kulturwissenschaftliche Sondierung inkohärenter Bruchstücke zu
leisten vermag. Brechts vorrangiges Interesse gilt weniger der Durchformung
des Menschen durch Drill und Effizienzdenken; die Trainingshallen der Boxer
meidet er. Der Autor betrachtet den Sport vielmehr als eine Organisationsform,
in die spezifische wirtschaftliche, prestigemäßige und massenmächtige Ökono-
mien und Wissensformen hineinspielen.
Brecht umkreist das ikonische System Boxen bekanntlich dergestalt, dass er
neben „Lederjacke und Virginia-Zigarre“29 auch „Whiskyflasche und Punching-
ball“30 als Zeichen boxsportlicher Signifikanz inventarisiert; das Trainingsinst-
rument dient Brecht jedoch weniger zu Trainingszwecken und Körpertechni-
sierung, mehr als Vorrichtung, die mit Alltagsroutinen kurzgeschlossen scheint.
Im Manifest Sport und geistiges Schaffen antwortet Brecht auf eine Rundfrage in
rhetorisch paradoxem Pathos. „Ich kann Ihnen eine kleine private Erfahrung
mitteilen“31, notiert Brecht in der Tonlage vorgeblicher Vertrautheit:
Vor einiger Zeit habe ich mir einen Punchingball gekauft, hauptsächlich weil er,
über einer nervenzerrüttenden Whiskyflasche hängend, sehr hübsch aussieht und
meinen Besuchern Gelegenheit gibt, meine Neigung zu exotischen Dingen zu be-
kritteln, und weil er sie zugleich hindert, mit mir über meine Stücke zu sprechen.
Ich habe nun gemerkt, daß ich immer, wenn ich (nach meiner Ansicht) gut gear-
beitet habe (übrigens auch nach Lektüre von Kritiken), diesem Punchingball ei-
nige launige Stöße versetzte, während ich in Zeiten der Faulheit und des körperli-
chen Verfalls gar nicht daran denke, mich durch anständiges Training zu bessern.32
Die Begründung für den Erwerb und die Beschreibung des Punchingball-Ge-
brauchs klingt in Zeiten der Sportheldenmaskerade und des Körperkraftkarne-
vals wie blanker Hohn. Deutlich wird jedoch, dass sich Brecht im Gewande des
Boxsportfans hier als Kritiker versteht – seine Ablehnung des Boxsportbooms
und des Boxheldenmythos, von denen Brecht als Verkäufer seiner Boxsporttexte
28 Sicks 2004, S. 383
29 Meinhardt 1996, S. 132
30 Ebd.
31 Brecht 1992d, S. 123
32 Ebd. 241
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440