Seite - 244 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 244 -
Text der Seite - 244 -
als Juror eines Lyrik-Wettbewerbs kürt Brecht, der Sportberichte mit größerem
Interesse als Gedichte liest44, im Jahr darauf unter 400 Einsendungen Hannes
Küppers Maschinen-Mensch-Eloge He! He! The Iron Man! zum Siegerpoem.45
Bereits 1921 findet sich in Brechts Tagebuch die Notiz: „Die schwarze Sucht
des Gehirns: siegen.“46 Um 1926, stellt Kai Marcel Sicks in seiner Studie Sollen
Dichter boxen? fest, übernehme bei Brecht die dem „Sport entlehnte Bildlichkeit
auch in literarischen Prosatexten die Funktion, poetologische Überlegungen zu
profilieren“47. Sicks spricht von einem „intrikate[n] Relationsgeflecht“48, das sich
bei Brecht in der Verschaltung von Sport, Theorie und Literatur entfalte.
Brechts exponierter Blick auf das Boxen mündet zu einem frühen Zeit-
punkt in eine Kontroverse mit einem Hauptvertreter jener weit verbreiteten
Denkhaltung, die davon ausgeht, dass sportive Betätigung tief in die Persona
des Menschen dringe – und dabei das Primat maschinenartiger, mechanischer
Leistungsleiblichkeit meint. Der Schriftsteller Frank Thiess propagiert das Ideal
des gestählten, sportlich definierten Körpers, der kultivierende Wirkung auf das
gesamte Wesen des Menschen hervorrufen solle, in einem 1926 in der Berliner
Zeitschrift Uhu erstveröffentlichten Essay; seinen Kontra-Standpunkt zu Thiess’
Text fasst Brecht in kulturanalytische Essayistik.49 Brecht versucht Boxen als
eine diskursive Verbindungsstelle zwischen dem sozialen und alltagskulturellen
Feld zu etablieren – mit der wiederum der Bereich des Performativ-Individu-
alistischen interagiert. Die Geburt des modernen Subjekts, verkörpert in der
Zeitfigur des Boxers, erfolgt im Geflecht von Körpertechnologien, Institutio-
nen, Subjektivierungen, Macht-Wissen-Formationen – in Praktiken öffentlicher
Performanz, ausgetragen vor einem Massenpublikum. Dabei belässt Brecht der
Figur des Boxers ihre Ambivalenzen: Es ist für den antibürgerlich gesonnenen
Autor wohl von entscheidendem Vorteil, dass der Zeittypus mit den Attributen
des Antibourgeoisen in Verbindung gebracht wird.
Mit dem „edlen Schweiße“50, stellt dagegen Thiess in Dichter sollten boxen
beharrend fest, werde man „allen möglichen Unrat los, Unrat des Blutes und des
Geistes, Komplexe und unverdrängte Unbewußtheiten, dumme Gedanken und
44 Vgl. Witt 1996, S. 213
45 Vgl. Schütz 1986, S. 17; Knopf 1996b, S. 65; Gamper 1999, S. 154; Jeske 1984, S. 84; Gereon
2001
46 Brecht 1975, S. 162
47 Ebd.
48 Ebd., S. 367
49 Zu den diversen Aspekten der Publikationsgeschichte von Brechts sportessayistischen Schrif-
ten, die das Nachdenken über Boxen einschließen, vgl. Witt 1996, S. 219; Junghanns 1997, S.
154 (Fußnote); Extra 2006, S. 194; Sicks 2004, S. 365
50 Thiess 1996, S. 16
244 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440