Seite - 268 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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meldet sich Samson-Körner in den Ring.241 Brecht begründet darauf aber nicht
auf Biegen und Brechen eine Heldensaga; er lässt den autodiegetischen Erzähler
Samson-Körner im Gegenteil ausführlich berichten:
Ich habe inzwischen viele Burschen gegen mich in die Seile klettern sehen, zwei-
fellos bessere Boxer, und ich sage die Wahrheit, wenn ich sage, daß ich eine Reihe
von ihnen ganz aus dem Gedächtnis verloren habe, das heißt, ich kann mich, auch
wenn ich die Namen in meinem Rekordbuch lese, nicht mehr auf ihr Aussehen
besinnen. Ich lese in einem Zeitungsausschnitt, daß ich in der zweiten Runde so-
gar angeschlagen war, also scheint mir der Mann nicht nur Gutes getan zu haben,
aber auf sein Gesicht kann ich mich nicht mehr besinnen. Meinen ersten Gegner
aber sehe ich noch vor mir, als hätte ich ihm erst gestern die Hand geschüttelt. Er
schüttelte mir übrigens nicht nur die Hand.
Es kommt mir heute noch vor, als sei er zwei und einen halben Meter groß gewe-
sen und so dick wie ein Ochse.
Er schien einen ganz niederträchtigen Charakter zu haben. Er sah ganz danach
aus, als mache es ihm weniger aus als Weihnachtspudding zu essen, einen lebendi-
gen Menschen, der ihm nichts Böses tun wollte, wie einen Sack gefühlloser Kleie
zu behandeln. Nun, ich hätte vorher seine Photographie verlangen müssen. Als der
Gong schlug, war es für das Nachdenken zu spät.242
Das Duell am Rummelplatz, auf dem sich jedermann als Boxer fühlen und öf-
fentlich dem vitalistisch-agonalen Chaos aussetzen darf, wandelt sich von einem
Ort der Ästhetisierung von Brutalität zu einem Gewalt-Schauer-Schauplatz
mit Zuschauerbeteiligung. Boxen konvergiert mit unverhüllter Rohheit:
Ich wurde einfach verprügelt. Ich war billig hereingekommen, zugegeben, aber ich
war dazu hereingekommen, verhauen zu werden. Der Mann machte keine weiteren
Umstände mit mir.
Er langte mir einfach in die Visage und stellte dort ungeheure Veränderungen her. Er
schlug von links, rechts, oben und unten, er schien gar nicht erst zu zielen und
er traf immer. Er schien es mit der Muttermilch eingesogen zu haben, friedli-
che Leute, die nichts wollten als schlafen, wie Raubmörder zu traktieren. Meine
Boxhandschuhe benutzte ich nur dazu, sie vor das Gesicht zu halten. Durch die
schlug er dann durch. Dennoch blieb ich, mit einigen Unterbrechungen, wo ich
mich, nur zum Ausruhen, ein wenig auf den Boden legte, die ganze Runde durch
irgendwie stehen. Ich hatte keine Zeit, irgend etwas zu merken, sonst hätte ich
241 Vgl. ebd., S. 223
242 Brecht 1997b, S. 223f (Hervorh. im Orig.)
268 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440