Seite - 272 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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kenntnisse Samson-Körners, dieses mit öffentlichem Nachdruck begutachteten
„Einzelgiganten […], […] Herumtreibers und Hasardeurs“264, versteht Brecht
im Lebenslauf hinterlistig zu dolmetschen. In Alexandria lernt Samson-Körner
auch den Schiffskoch Jeremiah Brown kennen, der ihm eine „empfindliche Lek-
tion“265 erteilt.266 Brown verpflichtet Samson-Körner zum „Kohleschleppen und
Brotbacken“267; Samson-Körner schüttelt Brown deswegen stark die Hand, um
den Küchenchef vor Schmerz zum Heulen zu bringen: „Ich glaube, dies war mein
erster Kampf mit einem Mann “, notiert Brecht im Lebenslauf, „und ich lernte, wie
gesagt, eine Menge dabei.“268 Bald wird Samson-Körner auch in eine Ausein-
andersetzung hineingezogen, die er selbst verursacht hat: Er entwendet heim-
lich Browns mühevoll zusammengetragene Fotosammlung; Brown übt sich je-
doch in Gleichgültigkeit. Auf Zwischenstation im Londoner Hafen schleppt er
Brown in Tanzlokale und in ein Fotostudio.269 Samson-Körner will in London
auf Land bleiben, denn er „war in einen Kampf verwickelt und, was schlim-
mer war, ich wußte es gar nicht. Die Freundschaft des Kochs war lediglich der
zweite Teil unseres Kampfes: es war der weitaus gefährlichere.“270 Am nächsten
Morgen eröffnet Brown dem Deutschen, er habe seine Fotos wiedergefunden,
nämlich „in einer dreckigen Kiste, die er gleich weggeschmissen“271 habe. Brown
fügt Samson-Körner eine empfindliche Niederlage im Lebenskampf zu:
Ich weiß noch, daß in mir in diesem Moment nichts steckte, das wie Zorn aussah:
es war mir einfach übel. Ich ging ruhig an ihm vorbei und legte mich in meine
Hängematte. Ich hatte genug vor der Welt.272
Boxen als Sinnbild des modernen Lebenskampfes beginnt zu verblassen. Im
Lebenslauf des Boxers Samson-Körner findet sich eine weitere signifikante Ab-
sage an die förmlich zur Doktorin erhobene Existenzkampf-Vulgata. Erfah-
rungs- und Lerneffekte stellen sich bei Samson-Körner nicht mehr im Boxring,
sondern im Gefängnis ein – beim Kartenspiel mit einem der Wärter. Bereits
Samson-Körners Weg in die Haft ist vom Versagen des Daseinsglücks geprägt:
In Cardiff überquert der Boxer eine Brücke – wofür er im benachbarten Bristol
264 Kohtes 1999, S. 65
265 Brecht 1997b, S. 228
266 Vgl. ebd., 226f
267 Brecht 1997b, S. 228
268 Ebd., S. 229 (Hervorh. im Orig.)
269 Vgl. ebd., S. 230
270 Ebd.
271 Ebd., S. 231
272 Ebd.
272 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440