Seite - 277 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Bild der Seite - 277 -
Text der Seite - 277 -
Auf Nachfrage präzisiert Brecht seine Methode des Schreibens304:
Ich bitte ihn mir zu erzählen, wobei ich größten Wert auf seine Ansichten lege.
Die Ansichten der Leute interessieren mich überhaupt mehr als ihre Gefühle. Die
Gefühle werden meist von den Ansichten hervorgerufen. Sie laufen mit. Die An-
sichten hingegen sind entscheidend. Nur die Erfahrung ist zuweilen in höherem
Grade primär. Aber man weiß, daß nicht jede Ansicht ihre Quelle in der Erfah-
rung hat.305
Brecht, der ausgesprochene Antipsychologist, hält sich beim Boxen eine Tür
offen. Er zeigt sich als Vertreter einer „Denk- und Verhaltensströmung“306, die
allenfalls in Maßen „Verbindungen zur Neuen Sachlichkeit“307 herzustellen
sucht. Dem in seinen Augen neusachlichen Schematismus mit seinen Geboten,
die Codexen gleichen – Nüchternheit, Antisentimentalität, Distanz, Präzision
–, kann Brecht offenbar nicht allzu viel abgewinnen: „‚Sachlichkeit‘ fungiert
als eine Form des Mitgehens, des In-der-Zeit-Seins: Nicht nachhinken, keine
Ressentiments wachsen lassen, keine alten Werte pflegen, sondern zusehen, was
jetzt der Fall und zu tun ist.“308 Von dem „guten Alten“309, betont Peter Sloterdijk
in diesem Zusammenhang ausdrücklich, könne man nicht zehren. Besser sei
es, beim „schlechten Neuen anzusetzen“310. Brecht schlägt Boxen nicht nur einer
differenzierten Körperkultkultur zu, sondern ordnet ihm auch Prozesse psychi-
scher Dispositionen zu: Auf der Boxsportbühne erscheint, wie bereits gezeigt,
ein Kämpfer in eigener Sache, der nicht mehr allein durch die Beherrschung ei-
ner einzigen praktischen Diskursart festgelegt ist: Bärenstärke, Mechanisierung,
Gigantomanie. Brechts Boxer sind geradezu verfangen in Expansionsbewegun-
gen unterschiedlicher Körper-Geist-Relationen; Boxen ist zugleich Teil der
zeitgenössischen Trends der Dynamisierung, Optimierung und Flexibilisierung.
Wohl auch deshalb bezieht Brecht in den Lebenslauf Samson-Körners häufig
Ansichten und Vorstellungen, Träume und Wünsche, psychologische Motivie-
rungen und spezifische, sich wandelnde Gefühlslagen mit ein: Samson-Körner
zeigt etwa Interesse an einer „Auswahl anderer Berufe“311, er sitzt in Bierbuden,
304 Zur Arbeitsmethodik Brechts im Lebenslauf vgl. Sicks 2004, S. 380, u. Knopf 1996b, S. 247
305 Ebd.
306 Witt 1996, S. 211
307 Knopf 1996b, S. 247
308 Sloterdijk 1983, S. 787
309 Ebd. (Hervorh. im Orig.)
310 Ebd., S. 789 (Hervorh. im Orig.)
311 Brecht 1997b, S. 217 277
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
|
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Titel
- FAUST UND GEIST
- Untertitel
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Autor
- Wolfgang Paterno
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Abmessungen
- 16.1 x 25.5 cm
- Seiten
- 446
- Schlagwörter
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440